Leuchtende Räume

Soziokultur und Nachbarschaften in Städten und ländlichen Räumen: Kenntnisse und Handlungsmöglichkeiten

Vor einiger Zeit berichteten die Medien über den kleinteiligen Einzelhandel, der wieder mehr genutzt werde, über die Zunahme von nachbarschaftlicher Hilfe beim Einkaufen und über kleine, vielfach spontan organisierte Kulturveranstaltungen in Wohn- und Hinterhöfen. Ursache dafür waren Regelungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Schlagartig wurde dadurch Lebensrealität, was seit den 1990er Jahren in manchen Politikfeldern als Programm gefordert wurde: „Global denken – lokal handeln“ und sich in Konzepten wie der „Stadt der kurzen Wege“ niederschlug. Soll diese Besinnung auf Nachbarschaften nicht nur von kurzer Dauer sein, dann stellt sich auch für die Soziokultur die Frage, welche Bedeutung sie für Nachbarschaften hat und
was eventuell zu tun ist?

RALF EBERT und CARSTEN NOLTE im Gespräch.
Oktober 22
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Carsten Nolte: Was versteht man heute unter Nachbarschaften und Quartieren?

Ralf Ebert: Die Vorstellungen zu Nachbarschaften sind vielfältig, nicht selten assoziiert mit Dorfgemeinschaften, variieren je nach Kontext (zum Beispiel in der Gemeinwesenarbeit) und haben zudem eine lange, teilweise auch nicht ganz unproblematische Geschichte. Im zivilgesellschaftlichen Kontext sind Nachbarschaften nach Oehler und anderen Autor*innen Orte der gesellschaftlichen Transformation im Kontext der Entwicklung von Quartieren mit einer zumeist ausgeprägten Wohnfunktion. Bei den in den letzten Jahren vielfach diskutierten Kultur- und Freizeitvierteln geht es demgegenüber mehr um das Miteinander und die Zusammenarbeit von kommunal getragenen Einrichtungen mit der Freien Szene, mit Vereinen, der Gastronomie etc. in einem kleineren, zumeist innerstädtischen Gebiet, wobei hinsichtlich dieser Zusammenarbeit unserer Kenntnis nach vielerorts noch Nachholbedarf besteht.

Carsten: Welche Rolle spielen soziokulturelle Einrichtungen, Vereine und Initiativen für Nachbarschaften?

Ralf: Auch in dieser Hinsicht ist keine allgemeingültige Aussage möglich. Manche spielen eine größere Rolle. Zumeist sind das Häuser mit einem weniger breiten Angebot oder solche, die Nachbarschaftstreffen oder nachbarschaftsbezogene Angebote haben. Dieses Angebot variiert dann je nach sozialer Zusammensetzung der Nachbarschaft. Für spezialisierte Einrichtungen wie etwa Künstler*innenhäuser trifft das zumeist aber deutlich weniger zu, da diese eher ein spezifisches Publikumssegment aus dem ganzen Stadtgebiet und darüber hinaus ansprechen.

Carsten: Welche Bedeutung hat denn die Soziokultur für die Städte und die ländlichen Räume?

Ralf: Kurz gesagt. eine größere als vielfach angenommen. Das hat auch unsere empirische Studie zu den Bedarfen der Freien Szene in Krefeld vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie gezeigt. Deren zumeist kleinteiligen Angebote decken kulturelle Bedarfe von ganz unterschiedlichen Altersgruppen und kulturellen Interessen in Städten und ländlichen Räumen ab. Im Kontext von zunehmend digitalisierten Öffentlichkeiten kann man dann auch von Online-Nachbarschaften sprechen. Die Freie Szene ist also ein bedeutender Faktor der „(Er-)Lebensqualität“ mit einer Reihe an positiven Effekten für die Entwicklung von Städten und ländlichen Räumen. Erst deren Angebote und Initiativen machen manche Quartiere zu „Leuchtenden Räumen“. Jedoch muss man auch darauf hinweisen, dass eine attraktive Freie Szene in Großstädten wie etwa Berlin oder Hamburg auch zur Gentrifizierung von Quartieren beitragen kann.

Carsten: Wie können soziokulturelle Einrichtungen, Vereine und Initiativen in Ihrer Bedeutung für die Nachbarschaften gestärkt werden?

Ralf: Wie bei anderen Themen gilt auch hier. „ohne Konzept keine Förderung“ seitens der öffentlichen Hand. D.h. diejenigen, die noch keine Konzepte haben, die auf die Bedarfe der Nachbarschaften zugeschnitten sind, sollten diese erarbeiten. Dabei lässt sich auf eine Reihe an guten Beispielen zurückgreifen (siehe dieses Heft). Jedoch sollte man sich vorher klar sein, dass eine stärkere Verknüpfung von soziokultureller Einrichtung und Nachbarschaft ein komplexer und mehrjähriger Prozess ist, gerade in Vierteln mit hohem migrantischen Anteilen bzw. sehr heterogener Zusammensetzung. Von heute auf morgen wird das nicht gelingen. Ein solches Angebot muss auch nicht unbedingt in der Eirichtung erfolgen, sondern kann zusammen mit Newcomern der Freien Szene auch bestehende Leerstände in der Nachbarschaft nutzen. Das hat auch den Vorteil, dass hierfür vielfach Fördergelder zur Verfügung stehen.

Carsten: Und wie kann die Zusammenarbeit von öffentlichen Kultureinrichtungen und Soziokultur verbessert werden?

Ralf: Unser Büro hat die Erfahrung gemacht, dass Museen, Theater etc. oftmals die Soziokultur vor Ort kaum kennen. Ein Schritt könnte also sein Akteur*innen aus diesen Einrichtungen einmal einzuladen. Selbstverständlich können auch die Kulturverwaltungen etwas für eine Verbesserung der Zusammenarbeit von öffentlichen Kultureinrichtungen und Soziokultur tun, das ist unbedingt nötig. Beispielsweise bieten sich mehrere gemeinsame Workshops zu diesem Handlungsfeld an. In diesem Rahmen sollte dann erörtert werden, wo beide Seiten Ansatzpunkte sehen und wie diese umgesetzt und erprobt werden können. Steht die Erarbeitung von Kulturentwicklungsplänen bzw. -konzepten an, dann sollte die Zusammenarbeit von öffentlichen Kultureinrichtungen und Soziokultur ein zentrales Thema sein, insbesondere dann wenn größere Investitionen bei Theatern, Museen etc. anstehen.


STADTart Dortmund ist ein Planungs- und Beratungsbüro zu Kultur- und Kreativwirtschaft, Freizeit und Sport im Kontext der Stadt- und Regionalentwicklung mit Machbarkeitsstudien, empirischen Erhebungen, Umnutzungskonzepten, kommunalen und regionalen Kulturentwicklungskonzepten sowie Evaluierungen.
www.stadtart.com/start


Hinweise zum Weiterlesen:

  • Menzl, Marcus (2020); Nachbarschaft und Quartier in der Stadtentwicklung, in: Breckner, Ingrid; Göschel, Albrecht, Matthiesen (Hrsg.); Stadtsoziologie und Stadtentwicklung, Hand buch für Wissenschaft und Praxis, 245- 255.
  • Oehler, Patrick; Käser, Nadine; Drilling, Matthias; Schnur, Olaf (2017); Professionelles Handeln in Nachbarschaften der Postmoderne; in: vhw FWS 4, 204-210.
  • Schnur, Olaf (2020); Kiez und Corona: Nachbarschaft im Krisen-Modus – ein Kommentar, in: vhw WerkSTADT Nr. 40


Ralf Ebert

Dipl. Ing. RALF EBERT ist Stadtplaner und Mitbegründer von STADTart Dortmund. Er ist langjähriges Jurymitglied im Rahmen der Konzeptförderung Soziokultureller Zentren in Nordrhein-Westfalen und Mitbegründer des Künstlerhauses Dortmund. Aktuell ist er als Dozent an der Hochschule Bremen zu Freizeit, Kultur und Planung tätig und in Weiterbildung zum Mediator.