Veränderung kultureller Interessen und Ansprüche
Kulturelle Interessen verändern und segmentieren sich zunehmend, vor allem durch Migration und neue digitale Kulturräume, in denen ganz andere Aktions- und Rezeptionsweisen ausgebildet werden. Enkulturationsprozesse sind unterbrochen und neue Generationen wachsen nicht mehr automatisch in das klassische Kulturangebot hinein.
Traditionelle Kulturangebote erreichen schon immer nur ein begrenztes Segment der Bevölkerung: weit überdurchschnittlich höher Gebildete, ökonomisch besser Gestellte und Ältere. Kulturelle Interessen werden wesentlich durch das Elternhaus geprägt. Vor allem junge Menschen aus bildungsfernen Elternhäusern werden mit klassischen Kulturangeboten nicht erreicht (Keuchel/Wiesand 2006) und auch schulisch verpflichtende Angebote führen zumeist nicht zu einem nachhaltigen Interesse an klassischen Kulturangeboten. Hierzu bedarf es unterschiedlicher Mittler auf formaler, non-formaler und informeller Ebene.
Um ihre Legitimität zu sichern, bemühen sich die klassischen Kultureinrichtungen seit einigen Jahren aktiv mit stark erweiterten Audience-Development-Maßnahmen darum, neue und andere Besucherinnen zu gewinnen. Dabei zeigen Untersuchungen von Audience-Development-Programmen in Deutschland und international, dass es kaum gelingt, ohne tiefgreifende Transformationen der Einrichtungen nachhaltig anderes Publikum anzuziehen und zu binden. „If you want to change your audience, you first have to change yourself“ – strukturelle Veränderungen klassischer Kultureinrichtungen in ihren Programmen, ihrem Personal und ihrer Mission sind notwendig, um für ein anderes, diverseres Publikum zugänglich und attraktiv zu werden.
Auch durch diese Erkenntnis entwickeln klassische Kultureinrichtungen über Marketingmaßnahmen hinaus verstärkt teilhabeorientierte Programme und Aktivitäten kultureller Bildung: So ist eine starke Zunahme der sogenannten Fünften Sparte bei Stadt- und Staatstheatern zu beobachten mit Outreach in den öffentlichen Raum und in Bildungseinrichtungen, durch Bürgerbühnen und partizipative Projekte mit „Experterinnen des Alltags“ . Obwohl es dafür, anders als in anderen europäischen Ländern, kaum kulturpolitische Vorgaben gibt, entwickeln fast alle Stadt-und Staatstheater vielfältige teilhabeorientierte Maßnahmen. Offensichtich spüren die Einrichtungen selbst, dass die lange als selbstverständlich akzeptierte Vorstellung, der Staat habe Einrichtungen wie Theater zu finanzieren, um die Produktion anspruchsvoller Kunst vor Markteinflüssen zu schützen, als alleiniger Legitimationsmythos nicht mehr ausreicht. Hinzu kommt, dass gesellschaftliche Integration und Diversitätsorientierung im Fachdiskurs als zentrale Herausforderungen definiert werden, denen sich auch öffentlich geförderte Kultureinrichtungen zu stellen hätten.
Es lässt sich also ein Trend zur „Soziokulturalisierung“ klassischer Kultureinrichtungen erkennen, allerdings wird davon das „Kerngeschäft“ der Einrichtungen bislang wenig berührt. Die Maßnahmen werden eher als Add-on an die Abteilung Vermittlung delegiert und sind kaum strukturell verankert. Sie sind zudem sehr stark auf jeweils spezifische Zielgruppen ausgerichtet, ohne dass sich damit die soziale Zusammensetzung des Publikums insgesamt verändern würde.
Was lässt sich über die soziale Zusammensetzung von Publikum und Teilnehmenden der soziokulturellen Zentren sagen? Leider gibt es hier keine differenzierteren Studien, aber die letzte Statistik des Bundesverbands Soziokultur zählt wachsende Publikums- und Teilnehmerzahlen, eine hohe Altersmischung sowie einen Migrationshintergrund bei etwa 30 Prozent der Besucherschaft. Durch ihr breites und niedrigschwelliges Angebot und die Möglichkeit, flexibler auf sich verändernde Interessen zu reagieren, erreichen soziokulturelle Zentren vermutlich ein deutlich diverseres Publikum als die klassischen Kultureinrichtungen. Gelingt es der Soziokultur dabei auch, Menschen über zielgruppenspezifische Programme hinaus zusammenzubringen?
Der Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken
Milieustudien verweisen auf eine zunehmend fragmentierte Gesellschaft. Dabei spielen auch digitale Filterblasen und politische Polarisierungen eine Rolle. Eine große Herausforderung für Kultureinrichtungen liegt darin, solche Tendenzen der Abschottung in ihrer Arbeit zu überwinden. Dies gelingt den klassischen Kultureinrichtungen aufgrund ihres hohen Distinktionspotentials und der vermuteten Komplexität ihrer Gegenstände nur bedingt.
Soziokulturelle Zentren sind zumindest potentiell Orte, die inhaltlich ein breites Spektrum von alltagsnahen und für viele Menschen gleichermaßen relevanten Themen und kulturellen Aktivitäten anbieten können, und sie sind häufig niedrigschwellige Orte mit hoher Aufenthaltsqualität, wo sich Menschen treffen können. Aber auch die soziokulturellen Zentren ziehen, zumindest im Publikum ihrer professionellen Programme, ein eher homogenes Klientel an, so die Beobachtung vieler Akteur*innen im Feld.
Was sind Lösungsansätze, um Menschen über soziale, politische, kulturelle und Altersgrenzen hinweg mit Kunst und Kultur zusammenzubringen? Basis für eine milieu-übergreifende Kulturarbeit ist, die Vielfalt der Interessen in der Bevölkerung als Ressource zu begreifen, als Inspiration für Programmgestaltung und für Veränderungsprozesse in den Kultureinrichtungen selbst. Dabei sollte das Verständnis von Diversität sich nicht allein auf die kulturelle Herkunft reduzieren, sondern die verschiedenen Dimensionen menschlicher Unterschiedlichkeit einbeziehen wie Geschlecht, Alter, Bildung, soziale Herkunft, kulturelle Interessen, kosmopolitische versus kommunitaristische Orientierung und andere.
Notwendig ist das Überwinden eines normativen Kunst- und Kulturverständnis und die Anerkennung unterschiedlicher Kulturformen (Schlager, Volkskultur, klassische Kultur, Popkultur) als anders, aber gleichwertig, einschließlich der Öffnung für populäre Interessen, die in der Bevölkerung insgesamt dominant sind. Im Rahmen von Cross-Over-Programmen, die in der Interkulturbarometer-Befragung als besonders attraktiv bezeichnet wurden, können unterschiedliche künstlerisch-kulturelle Formen produktiv zusammengebracht und so verschiedene Anknüpfungspunkte geschaffen werden.
Themen zu behandeln, die alle angehen und zu denen sich jeder in Beziehung setzen kann, ist eine weitere Voraussetzung, um Gruppengrenzen zu überwinden. Wenn es darum geht, Austausch zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu schaffen, ist die soziale Dimension von Kunst und Kultur zentral. Dass man sich über Kunst begegnet, ins Gespräch kommt, gemeinsam isst und trinkt, ist vor allem in klassischen Kulturprogrammen, die sich auf kontemplative Rezeption konzentrieren, oft verloren gegangen, womit ein wichtiger Aspekt der Attraktivität von Kulturveranstaltungen fehlt.
Anregend ist in diesem Kontext das Konzept des Community Building, das im angelsächsischen Raum als neues Narrativ für Kultureinrichtungen entwickelt wurde. Dabei geht es darum, sich nicht nur als Ort für die Präsentation von Kunst und Kultur zu verstehen, sondern sich mitverantwortlich zu fühlen für soziale Anliegen und die Lösung gesellschaftlicher Probleme in der Nachbarschaft und das gute Zusammenleben in einer Stadt oder einem Stadtteil und in Verantwortungspartnerschaften mit anderen kommunalen Playern. „How are the lives of members of the community made better by the work you do?“ Das muss die zentrale Frage für Kultureinrichtungen im Sinne eines „guten Nachbars sein.
Auszug aus einem Vortrag von Prof. Dr. Birgit Mandel auf dem 22. Hamburger Ratschlag Stadtteilkultur im Dezember 2021. Der vollständige Vortrag einschließlich der Literaturverweise kann hier eingesehen werden.