Im Elchtest – ein Stück weiter

Die Demokratie steht unter hohem Stress. Akteur*innen der Soziokultur ringen um ihre Stärkung und fürchten gleichzeitig um die Rahmenbedingungen der eigenen Arbeit.
Juni 24
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Die Mehrheit der Bürger*innen empfindet aktuell die Ampel als schwierige bis untaugliche Regierungskonstellation. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird das Wahljahr 2024 den demokratischen Parteien noch kompliziertere Arbeitsbündnisse abverlangen.

Nach der jüngsten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus brachten es die Wähler*innen der SPD, der Grünen und der Linken auf eine Mehrheit von insgesamt 49 Prozent. Die SPD  entschied sich aber für eine Koalition mit der CDU. Rhetorisch begründete sie das damit, dass die Partei mit dem höchsten Stimmenanteil quasi automatisch das Recht auf die Regierungsbildung besitze. Glücklicherweise ist dem nicht so. Sonst müssten in diesem Herbst in drei östlichen Bundesländern rechtsextrem geführte Regierungen gebildet und die immer noch verfassungsändernden Mehrheiten von knapp 70 Prozent der Wähler*innen ignoriert werden , die eben keine faschistoiden Positionen vertreten oder in Kauf nehmen wollen.

Es gibt regelmäßig Vorschläge, die jeweils aktuelle rechtsextreme Partei zu verbieten. Davon verschwinden aber weder deren Anhänger*innen aus der Bevölkerung noch der akute Stress der Demokratie.  

Spirale

Das Schwächeln demokratischer kultureller Hegemonie ist bekanntlich kein deutsches Spezialphänomen. Entsprechende Tendenzen zeigen sich in allen westlichen Demokratien, gerade auch in ihren historischen Stammländern Frankreich, USA und Großbritannien.

Mit den strukturellen Ursachen dafür haben wir uns unter anderem auch in der Ausgabe 1-20 der SOZIOkultur befasst und festgestellt: Die Konflikte, die Destruktions- und Aggressionspotenziale in der Gesellschaft nehmen zu, während ihre Kommunikations- und Verhandlungsfähigkeit seit Jahrzehnten abnehmen.

Inzwischen haben die mit den Volksparteien, Gewerkschaften und Kirchen gegebenen Bindungskräfte weiter abgenommen. Aus der CDU und der SPD sind je 10.000 weitere Mitglieder ausgetreten, aus den christlichen Kirchen mehr als 2,5 Millionen. Die Tendenz zur Herausbildung von Milieus und Submilieus, die untereinander nicht kommunizieren, hat sich fortgesetzt.

Zu den Fakes , Bots und Trollen, die wir schon um die Mitte der 2010er Jahre kannten, kommen jetzt gesteigerte verbale Aggression, KI-produzierte Deepfakes und ein schwunghaft angestiegener Datenhandel, der unter anderem bei der Abstimmung über den Brexit zur zielgenauen Manipulation von mehreren Millionen einzelnen Wähler*innen eingesetzt wurde.  

Der psychosoziale Stress der Pandemie hat Spuren hinterlassen. Die Klimakatastrophe fordert zunehmend Opfer und richtet Zerstörungen an. Russlands Krieg gegen die Ukraine spaltet die Gemüter. Zu seinen Folgen zählen in Deutschland die Energiekrise und hohe Inflation.

Seit dem Beginn der Pandemie sind die Belastungen der Gesellschaft enorm gestiegen.

Die AfD verdoppelte in diesem Zeitraum ihre Umfragewerte. Sie bildet nur die parlamentarische Spitze breiter rechtsextremer Kräfte und Netzwerke.

Repräsentation

Angesichts der Hochkonjunktur rechtsextremer Kräfte fleht manch*e Demokrat*in fast verzweifelt, die Bürger*innen sollen doch bitte in eine Partei des demokratischen Spektrums eintreten und sich dort engagieren. Das wird vermutlich nur relativ ausnahmsweise geschehen.

In Europa organisieren sich lediglich ein bis zwei Prozent der Wähler*innen in Parteien. Diese erfüllten über viele Jahrzehnte hin nicht nur die Funktion zur politischen Willensbildung beizutragen. In ihrem Umfeld fanden auch Geselligkeit und Unterhaltung statt. Die haben sich jetzt auf reichhaltige Kultur- und Freizeitangebote, auf Internet, Streaming Dienste und Social Media verlagert.

Wenn jüngere Menschen überhaupt in Parteien eintreten, dann tun sie es vor allem dort, wo zentrale Inhalte mit einer gewissen Radikalität vertreten werden. In Deutschland sind das die Grünen mit der ökologischen Transformation, die FDP mit den Rechten der Stärkeren, die Linken mit der sozialen Gerechtigkeit und eben die AfD mit den aus einer blutgegebenen Nationalität abgeleiteten (Un)Rechten. Die Parteimitglieder der sogenannten Volksparteien, die ja für den Interessenausgleich in der Mitte der Gesellschaft stehen wollen, sind im Durchschnitt ungleich älter. Einladungen dort einzutreten sind etwa so attraktiv wie solche zum Senioren-Tanztee.

Die repräsentative Demokratie hat in den differenzierten, komplexen modernen Gesellschaften ausgerechnet ein Repräsentationsproblem. Einerseits halten sich Politiker*innen und Parteien durchaus für Repräsentant*innen maßgeblicher Bevölkerungsgruppen. Andererseits fühlen sich viele Bürger*innen von ihnen überhaupt nicht repräsentiert und zeigen sich in ihren Präferenzen zunehmend unbeständig. Dass die AfD in den östlichen Bundesländern besondere Stärke erreicht, hängt übrigens auch mit der Unterpräsentation des Ostens an den Schaltstellen der Macht zusammen.

Vielen gelten Plebiszite als ein Weg aus dem Dilemma. Sie sind ja auch ein wichtiges Instrument, um sich während der Legislaturperioden der tatsächlichen Mehrheiten im Blick auf Streitfragen zu versichern. Aber sie sind eben nicht die Lösung für alles.

Inzwischen gibt es in Deutschland eine Reihe von Erfahrungen mit Bürgerräten. Sie werden in der Politik, in den Medien und in der Wissenschaft zum Teil kontrovers diskutiert.

Aus der Sicht der Soziokultur spricht für Bürgerräte:

  • Sie bilden einen Querschnitt der Gesellschaft ab. Bürger*innen können sich tatsächlich repräsentativ beteiligen, statt nur in Abständen abgefragt zu werden.
  • Den Empfehlungen/Ratschlägen geht intensive, aufeinander bezogene Kommunikation voraus.
  • Die Teilnehmer*innen erweisen sich weit überwiegend als gemeinwohlorientiert. Die auf Konsens zielenden, konstruktiven Beratungen bilden ein positives Gegenstück  zur destruktiven Hass-Kultur im Netz und auf den Straßen.

Dritte Orte und Netzwerke

Menschen brauchen neben ihrer Wohnung und ihrer Arbeitsstelle dritte Orte, an denen sie sich treffen und gesellig sein können. Demokratie braucht dritte Orte, an denen die Kommunikation und die Aushandlungen zu den akuten gesellschaftlichen Themen stattfinden.

Das richtet weder der Markt noch das Parteiensystem. Die Parteien sind zu schwach, um bis in die letzten kommunalen Gliederungen präsent zu sein. Privatwirtschaftliche Unternehmen unterhalten keine Niederlassungen oder Firmen, wo es sich kommerziell nicht lohnt.

Akteur*innen der Soziokultur engagieren sich in Problemquartieren von Großstädten, aber auch besonders in Kleinstädten und im ländlichen Raum. Sie sind niedrigschwellig zu erreichende dritte Orte und Foren der alltäglichen Auseinandersetzung mit Problemen und Konflikten. Menschen kommen von Angesicht zu Angesicht miteinander ins Gespräch und benutzen im Unterschied zu vielen schlechten Beispielen der digitalen Kommunikation grundsätzlich eine respektvolle Sprache. Besonders mit den permanenten Angeboten der Zentren gelingt es, Prozesse der gemeinsamen aktiven künstlerischen und kulturellen Produktionen mit solchen der Bildung und der gesellschaftlichen Debatte zu verbinden.

Indem die soziokulturellen Initiativen und Einrichtungen mit unzähligen Partnern kooperieren und in Bündnissen zusammenarbeiten, reicht ihre Kommunikation über die Grenzen von Milieus und Submilieus hinaus. Bei den so entstehenden Netzwerken handelt es sich allerdings oft um solche von gleich oder ähnlich Gesinnten.

Seit geraumer Zeit beobachten wir, dass entgegengesetzte Auffassungen immer weniger dialogisch ausgetragen, stattdessen mit zunehmender Wut demonstrativ festgestellt werden. Soziokulturelle Zentren werden in ihren Kommunen oft irgendwo im links-grünen Bereich verortet. Wer selbst Sympathie für die AfD hegt oder sie zumindest für das kleinste aller möglichen Übel hält, setzt selten einen Fuß hinein.

Eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Gelingen von Demokratie besteht deshalb gegenwärtig darin, Räume zu schaffen, in denen Ungleichgesinnte sich begegnen und ihre Differenzen debattieren können. Soziokultur schafft genau dafür täglich neue Möglichkeiten.

Contra und pro

Wer die rechtsextremistische Deformation der Legislative und der Executive hinzunehmen bereit ist, indem er oder sie für die AfD stimmt, verspricht sich wahrscheinlich in den meisten Fällen mehr als nur einen Denkzettel für die Ampel, unter anderem eine Verbesserung seiner oder ihrer persönlichen Situation und mit den scheinbar einfachen Antworten Erlösung aus der Unübersichtlichkeit der komplexen, widersprüchlichen Dauerkrisen. Das Gegenteil wird dann eintreten.

Die wirtschaftspolitische Programmatik der AfD führt zur weiteren Schwächung der armen und mittleren Bevölkerungsgruppen. Die globale Migration stoppt aber so wenig wie die Klimakatastrophe. Das heißt: kulturelle, soziale und politische Differenzen und Konflikte nehmen noch weiter zu, während die gesellschaftlichen Kompetenzen zum Umgang mit Vielfalt und unterschiedlichen Interessen umgekehrt proportional sinkt. Je stärker Konflikte sich zuspitzen und Interessen differieren, umso wichtiger sind die Spielregeln, nach denen die Aushandlung stattfindet.

Soziokultur wirkt in die Gesellschaft, indem sie innerhalb ihrer Arbeitsprozesse und im Umgang mit Teilnehmer*innen und Nutzer*innen täglich die positive Macht demokratischer Spielregeln vorlebt. Sie gibt ihnen auch breiten Raum in diversen Bildungs- und Debattenformaten, ebenso in künstlerischen und kulturellen Produktionen.

Auf dem Spiel

Im Sommer 2023 hat die EU-Kommission die Studie „Culture and Demoracy“ veröffentlicht. Deren Ergebnisse bestätigen das Erfahrungswissen der Einrichtungen und Akteur*innen der Soziokultur:

„Die Teilnahme an kulturellen Aktivitäten stärkt die Demokratie und den sozialen Zusammenhalt in vielerlei Hinsicht. Zu den Vorteilen der Teilnahme an kulturellen Aktivitäten gehören:  eine höhere Wahrscheinlichkeit, zur Wahl zu gehen, sich ehrenamtlich zu engagieren und sich an gemeinschaftlichen Aktivitäten, Projekten und Organisationen zu beteiligen; die Entwicklung positiver sozialer Einstellungen, die mit bürgerschaftlichen und demokratischen Werten und Identitäten verbunden sind. … Sowohl aktive als auch eher passive Formen der künstlerischen Teilhabe stehen in einem positiven Zusammenhang mit bürgerlichen Einstellungen. Stärkere Ergebnisse zeigen sich jedoch bei aktiveren Formen der Kunstbeteiligung.“

Aktuell droht der Soziokultur von allen politischen Ebenen finanzielle Unsicherheit.
Doch gerade weil die Lage angespannt ist, muss Soziokultur gefördert und unterstützt werden. Sie trägt entscheidend zum Gelingen von Demokratie bei.

Edda Rydzy

Dr. Edda Rydzy ist freie Autorin mit Lehr- und Vortragstätigkeit