Kristina: Im Redaktionsteam ging es darum, wie wir die Wirkungen von globalen, auch krisenhaften Entwicklungen auf den Alltag der Menschen und die damit umgehenden Konzepte und Projekte der Soziokultur am besten in einem Wort zusammenfassen. Da bist du mit dem Vorschlag „Nachbarschaften“ um die Ecke gekommen. Für Außenstehende liegt das vielleicht nicht so nahe.
Matti: Jedenfalls passiert es nicht selten, dass jemand denkt, weil wir in Haustürnähe arbeiten, weil Nachbarschaften unser ureigenes Wirkungsfeld sind, haben wir es mit Kleinigkeiten zu tun. Das Gegenteil ist aber der Fall. In den unmittelbaren Lebensbereichen der Menschen stellen sich die Fragen von Klimakrise, Strukturwandel, Flüchtlingsbewegungen, Digitalisierung, Pandemie, Energiekrise oder was auch immer ganz konkret. Ich sehe deshalb in Nachbarschaften nicht nur die Notwendigkeit, sondern vor allem eine besondere Möglichkeit, uns damit auseinanderzusetzen.
Kristina: Im Mittelpunkt von allem steht ja die Frage, wie es um die Beziehungen der Menschen bestellt ist. Ob sie überhaupt etwas miteinander zu tun haben oder ob sie nebeneinanderher leben.
Matti: Das sehe ich auch so.
Kristina: Aber was meinst du mit „besondere Möglichkeit“?
Matti: Die wenigsten Beschäftigten werden ja von ihren Arbeitgebern dafür bezahlt, dass sie die gesellschaftlich notwendigen Debatten führen. Außerdem gibt es in Nachbarschaften keine Hierarchien oder Weisungsketten. Die größere Freiheit und die in Nachbarschaften oft gegebene Diversität erleichtern das Finden von Lösungen.
Kristina: Es verändert auch die Kommunikation, wenn sie nicht durch hierarchische Strukturen formalisiert ist. Das macht einen Unterschied im Umgang miteinander.
Matti: Augenhöhe eben. Diese Ebene ist Voraussetzung für Begegnungen und produktiven Austausch. Man stellt nicht nur Konflikte fest, sondern kann auch Konsens über den Weg zu ihrer Lösung erreichen.
Kristina: Ja, diese Potenz haben wohl fast alle Nachbarschaften miteinander gemein. Sobald es um die konkreten sozialen, geografischen oder kulturellen Umstände geht, unterscheiden sie sich bekanntlich sehr voneinander.
Matti: Du hast eine Weile in den USA gelebt. Wie ist es denn dort?
Kristina: In den Suburbs oder eher ländlichen Gebieten ganz anders als hier. Es liegen riesige räumliche Distanzen zwischen den Häusern. Ohne Auto bist du komplett aufgeschmissen. Next door gibt es da nicht.
Matti: Schon verrückt, diese Unterschiede, allein innerhalb der sogenannten westlichen Welt. In Paris wirbt Carlos Moreno für die Ville intelligente – die Menschen sollen alles, was wichtig ist, also Supermarkt, Ärztehaus, Schulen, Erholungsorte innerhalb von 15 Minuten mit dem Rad erreichen können.
Kristina: Die smarte Stadt ist echt ein interessantes Konzept, um in Großstädten sozusagen in einem Atemzug gleichzeitig soziale und ökologische Probleme zu lösen. Doch ich fremdele mit der Idee, dass Computer dafür lernen müssen, was wir Menschen brauchen.
Aber man braucht gar nicht ins Ausland zu schauen, um große Unterschiede zu sehen. Ich bin in meinem Leben etwa 15 Mal umgezogen …
Matti: … im Durchschnitt alle drei Jahre, wow.
Kristina: Na ja, da sind auch ein paar eher kurz geratene Zeiträume an einem Ort dabei.
Matti: Womit wir bei der residenziellen Mobilität sind, die natürlich auch großen Einfluss auf die Entwicklungen in Nachbarschaften hat. Weil der Fokus oft auf der kriegs- oder krisenbedingten Migration über Landesgrenzen hinweg liegt, gerät das manchmal ein bisschen außer Acht. Wenn du dich selbst siehst, als Wandernde zwischen verschiedenen Nachbarschaften: Gibt es Erfahrungen, die du verallgemeinern kannst?
Kristina: Vielleicht die, dass ich selbst meine stärksten nachbarschaftlichen Bindungen während der Kindheit erlebt habe. Meine Eltern sind mit uns in eine verkehrsberuhigte Zone gezogen, da fand das Leben auf der Straße statt. Alle zwischen sechs und sechzehn haben sich täglich getroffen. Wir Kinder haben einen Theaterclub gegründet, kleine Theaterstücke für die Nachbarschaft aufgeführt und so was.
Matti: Dass Kinder die stärksten Türöffner sind, gilt sicher überall. Sie sind ja neugierig, oft vorbehaltlos. So ist auch meine Erfahrung, dass bei unseren Umzügen mit der Familie wir Kinder die waren, die die Nachbarschaft entdeckten.
Kristina: Durch die gemeinsamen Aktionen der Kinder kann dann auch die Distanziertheit zwischen den Eltern abnehmen.
Matti: Ja. Mit meiner Familie landete ich zum Beispiel im Schwäbischen, in der Nähe von Göppingen. Als wir hinkamen, gab es in den Nachbarhäusern mehrere ältere, alleinstehende Leute. Die hatten nicht so viel Umgang mit den übrigen Nachbar*innen. Es ging dann ganz schnell, dass um uns herum ein Gewebe wuchs aus gegenseitigen Besuchen, ausgetauschtem Kuchen, wechselseitig gegossenen Blumen und so was.
Kristina: Ein afrikanisches Sprichwort sagt ja, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen.
Matti: Der Umkehrschluss trifft aber eben auch zu: Es braucht Kinder, um ein Dorf oder eine Nachbarschaft zusammenzuhalten.
Kristina: Stimmt.
Matti: Nebenbei: Manche sehen sie trotzdem nur als unliebsame Lärmquellen.
Kristina: Dem wirken zum Glück inzwischen Gesetze entgegen. Das BGB sagt, der Lärm von Kindern und Babys in der Nachbarschaft müssen hingenommen werden.
Matti: Aber zurück zur residenziellen Mobilität. Ich habe selbst einige Umzüge hinter mir, zuletzt von Lörrach nach Nürnberg. Deshalb kann ich aus eigener Erfahrung sagen: Selbst wenn man die Sprache, die grundsätzliche Funktionsweise seines Landes beherrscht und klare Interessen hat, ist gar nicht so einfach, in dem Sinne an einem neuen Ort anzukommen, dass man in ein Geflecht aus Sozialkontakten eingebettet ist.
Kristina: War das für dich jedes Mal gleich schwierig oder gab es Unterschiede?
Matti: Sicher gab es Unterschiede. Mein eigener Lernprozess hat ja Zeit gebraucht, bis ich irgendwann recht schnell in der Lage war, neben dem Arbeitsumfeld die Orte und Einrichtungen zu finden, an denen ich Kontakte knüpfen konnte.
Kristina: Das ist jetzt sozusagen deine innere Situation. Kannst du für die jeweils gegebene Situation in den Nachbarschaften, die du angetroffen hast, sagen, wo es dir leichter und wo es schwerer fiel?
Matti: Ganz allgemein? Vielleicht, dass es einfacher ist an Orten, wo es eine höhere Fluktuation in der Bevölkerung, wo es viele neu Gekommene, viele soziale Milieus und viele individualisierte Lebensstile gibt.
Kristina: Heißt das, dass über längere Zeit gut funktionierende Nachbarschaften grundsätzlich weniger aufnahmefähig sind?
Matti: Das will ich so nicht sagen. Aber wir alle haben ja nur eine bestimmte, eine endliche Kapazität, Bindungen einzugehen und zu pflegen. In manchen Nachbarschaften ist diese Kapazität erschöpft. Es wird die Tradition zu Tode gepflegt, familiär oder kulturell, materiell oder immateriell. Sie funktionieren eben wirklich – oder anders: Sie sind gesättigt. Und für die, die daran teilhaben, ist das ja auch gut so.
Du leitest das Projekt UTOPOLIS. Da geht es um das Gegenteil.
Kristina: Ja. Hier geht es um Quartiere, in denen viele Menschen mit multiplen Problemlagen leben – prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Grundsicherung, Perspektivlosigkeit. Bezüglich Bildung und Kultur besteht großer Nachholbedarf. Da gibt es kaum Identifikation mit dem Stadtteil, viel Nebeneinander oder sogar Gegeneinander und wenig Miteinander.
Matti: Mit Bundesunterstützung habt ihr euch mit UTOPOLIS vorgenommen, soziokulturelle Auswege aus verfahrenen Situationen zu finden.
Kristina: Kunst und Kultur können hier eine unglaubliche Strahlkraft und eine ganz eigene Dynamik entwickeln. Die Aktionen an öffentlichen Plätzen fallen auf und laden zum Mitmachen ein. Sie machen Spaß, vermitteln Selbstwertgefühl und bringen Menschen in Kommunikation.
Matti: Wie geht es mit UTOPOLIS weiter? Für die Hälfte der Projekte läuft ja die Bundesförderung in diesem Jahr aus.
Kristina: Da sind große Anstrengungen von den Akteur*innen, idealerweise finanzielle Mittel von den Ländern und Kommunen notwendig, um den positiven Spirit von UTOPOLIS am Leben zu halten. Das ist immens wichtig.
Es geht schließlich um die Menschen, die in den abgehängten Quartieren leben. Sie brauchen nicht nur Nachteilsausgleich, sie brauchen positive Möglichkeiten, sich selbst zu entwickeln. Es geht um Empowerment, Sinnstiftung und Selbstwirksamkeit mit künstlerischen Mitteln.
Matti: Ich arbeite in Nürnberg im Amt für Kultur und Freizeit, in der Abteilung Soziokulturelle Stadtteilarbeit, bin zuständig für Teile der Südstadt. Hier lebt auf einem Drittel der Fläche die Hälfte von Nürnbergs Bevölkerung. In den Teamberatungen und Gesprächen mit meinen Kolleg*innen aus anderen Stadtteilen stelle ich immer wieder fest, dass wir wahnsinnig voneinander profitieren, dass es aber auch kein soziokulturelles Rezept gibt, das überall gleichermaßen funktionieren könnte. Habt ihr im Verlauf von UTOPOLIS etwas festgestellt, was überall gleich wichtig ist, um Nachbarschaften „zum Laufen“ zu bringen?
Kristina: Ja. Die Quartiere ähneln sich trotz aller Unterschiede in manchem. Die Leute sind mit Existenzsicherung beschäftigt und gehen oft nicht mehr davon aus, dass noch irgendein Hahn nach ihnen kräht. Bevor da wieder etwas möglich wird, braucht es ein Signal an die Einwohner*innen: Ihr interessiert uns. Eure Meinung ist uns wichtig. Das ist etwas völlig anderes, als ob wir von ihnen erwarten würden, dass zuerst sie sich für unser Angebot interessieren.
Matti: Aber wie fangen die Modellstandorte das an, ganz praktisch?
Kristina: Ich nenne mal ein Beispiel: Wenn Menschen im produktiven Umgang mit ihren Unterschieden zu einem friedlichen und harmonischen Miteinander finden sollen, dann müssen sie ja erst einmal etwas übereinander wissen. Also haben einige Standorte Porträts von Bäckerinnen und Kneipen-Wirtinnen, von Leuten aus den Nachbarschaft erstellt – wo kommen sie her, was machen sie so, wo wollen sie hin. Als Plakatfotos mit Kommentaren oder auch als Podcasts. So konnten andere Menschen im Quartier erfahren, was sie vielleicht schon immer voneinander wissen wollten. Das ist eine Grundlage.
Matti: Moabit, wo du seit fast zwanzig Jahren wohnst, hat auch zwei Soziale-Stadt-Gebiete. Wie lebt sich’s eigentlich dort?
Kristina: Da haben mich die damals günstigen Mietpreise hingelockt. Mittlerweile kann ich gar nicht genug schwärmen: Es ist ein kunterbunter Stadtteil, auch die KULTURFABRIK ist ein wichtiger Ort. Moabit ist sehr divers von der Anwohnerschaft her – und dabei ein bisschen wie ein Dorf. Man kennt sich, so gut, dass ich den Geldbeutel zum Einkaufen auch mal vergessen kann. Dann wird eben angeschrieben.
Matti: Das ist es vielleicht, worauf alles hinaus läuft. Es muss uns gelingen, vertraute Beziehungen wie im Dorf zu schaffen, nur eben nicht eng und unduldsam, sondern weltoffen und tolerant.