Gemeinsam mehr bewegen

Soziokultur braucht Demokratie – Demokratie braucht Soziokultur

Juni 24
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Nicht nur am Rande der Gesellschaft, sondern bis in ihre Mitte sind die polarisierenden Auswirkungen der globalen Konflikte spürbar, derzeit besonders deutlich durch einen alarmierenden Anstieg von Rassismus und Antisemitismus. Gerade in Deutschland, wo unter dem Nationalsozialismus bereits die größten staatlichen und menschlichen Verbrechen stattgefunden haben, schmerzen die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen mit populistischen, ausgrenzenden Lösungsmodellen und der Diffamierung Andersdenkender besonders. Die Normalisierung nationalistischer Ideologien im ganzen Land ist besorgniserregend, die Tendenz, nicht-demokratische Parteien in Landtage einziehen zu lassen, erschreckend.

Mut machen in dieser Gemengelage die zahlreichen und sichtbaren Aktivitäten der Zivilgesellschaft. Ob organisiert in Vereinen oder Initiativen oder als Einzelpersonen: Menschen gehen auf die Straße, positionieren sich, diskutieren, wie Gesellschaft anders gelebt werden kann. Sie schließen Allianzen, entwickeln gemeinsam demokratische Zukunftsvisionen und Alternativen für ein respektvolles und friedliches Miteinander. Für diese starke und lebendige Zivilgesellschaft braucht es das Bekenntnis zu gesellschaftlichem Engagement und Partizipation und die Erkenntnis möglichst vieler, dass es wertvoll ist, sich einzumischen. Genau hier liegt die Verantwortung, aber vor allem auch die Ressource der Soziokultur als dynamisches, optimistisches und an den Interessen und Bedürfnissen breiter Bevölkerungsschichten orientiertes kulturelles Handlungsfeld. Soziokulturelle Zentren schaffen Räume, die als Dritte Orte für Begegnung und Kommunikation fungieren. Sie sind Orte der Selbstermächtigung und des kontinuierlichen Dialogs und befördern mit künstlerischen Mitteln Community Building. Das immer noch gültige Prinzip „Kultur von allen – für alle“ ermöglicht die Erfahrung, das eigene Umfeld und den eigenen Lebensalltag selbst ausgestalten zu können, und das Erleben von Selbstwirksamkeit als wichtiger Grundlage für demokratische Schlüsselkompetenzen. Soziokulturelle Akteur*innen haben ein feines Gespür dafür, mit welchen Aktivitäten sie einen positiven Unterschied für das Zusammenleben in den Gemeinden und Stadtquartieren machen können.

Aufsuchend und einladend – raus aus der eigenen Bubble

Die Stärkung der Demokratie durch Soziokultur liegt in ihrer Fähigkeit, Gemeinschaften zu verbinden, Vielfalt, Inklusion und Partizipation zu befördern und Raum für Mitgestaltung zu schaffen. Soziokulturelle Angebote erreichen Menschen aller Altersstufen, verschiedenster Ethnien und Bildungsschichten; Soziokultur schafft in ländlichen Räumen teilweise die einzige Möglichkeit des Austauschs und in sozial komplexen urbanen Quartieren Frei- und Experimentierräume durch Kunst und Kultur. Doch so divers und heterogen die Besucherinnen und Nutzerinnen auch sind, so sind es allerdings doch häufig die bereits Engagierten, die sich auf den Weg in die Zentren machen und ihre Freizeit kulturellen und künstlerischen Ausdrucksformen widmen. Dabei ist für die Existenz der Demokratie und das Leben von demokratischen Grundsätzen im Kleinen wie im Großen entscheidend, dass sich nicht viele kleine Gruppen in ihren homogenen „Bubbles“ und ihre völlig abgetrennten Weltsichten aufspalten, sondern dass gesellschaftliche Konflikte gemeinsam bewältigt werden. Der Soziokultur erwächst daraus als langfristige Aufgabe, mit Kunst und Kultur eine Türöffner-Funktion einzunehmen und über Konfliktlinien und Gräben hinweg Kommunikation und Interaktion zu ermöglichen. Dafür sollte es gelingen, möglichst viele verschiedene Bevölkerungsgruppen zu erreichen und öffentliche Debatten zu führen, die alle mit einbeziehen. Nicht erst durch die Pandemie ist die Soziokultur an öffentliche Orte gegangen, sie macht sich – oft im Radius des Quartiers – schon seit langem aufsuchend und einladend auf den Weg, zu den Menschen hin. Das vom Bundesverband Soziokultur begleitete Programm „Utopolis – Soziokultur im Quartier“ hat exemplarisch über fünf Jahre gezeigt, wie sich die Einrichtungen für neue Zielgruppen geöffnet haben und welche Wirkung damit erzielt werden konnte.

Kooperationsprogramm „Allzeitorte. Gemeinsam mehr bewegen“

Dieser Grundgedanke steckt auch im Programm „Allzeitorte. Gemeinsam mehr bewegen“, das der Bundesverband Soziokultur seit Ende 2023 in Kooperation mit der Robert Bosch Stiftung GmbH durchführt. Das Programm will Menschen im erwerbsfähigen Alter – vor allem diejenigen, die sich von der Politik weder gehört noch angesprochen fühlen und der Demokratie gleichgültig bis ambivalent gegenüberstehen – dort erreichen, wo sie sich tagtäglich aufhalten: an Alltags- oder Freizeitorten wie Kleingärten, Schwimmbädern, Wartezimmern, Friseursalons oder Einkaufsläden. An zehn Standorten bundesweit entstehen aktuell Dreierbündnisse aus Ortebetreiberinnen und Akteurinnen der politischen und soziokulturellen Bildung. Die Tridems nutzen das Potenzial der vorhandenen Orte, greifen die Themen der Besucher*innen auf, entwickeln gemeinsam mit ihnen Ideen und motivieren dazu, gestalterisch und produktiv tätig zu werden. Durch die innovativen Beteiligungsformate, mit denen im Kleinen etwas bewegt wird, sollen sich die Teilnehmenden als gestaltende Kraft ihrer Alltagsräume und damit potenziell auch weiterer demokratischer Prozesse erleben und so den Mehrwert von Demokratie und Gemeinschaft ganz praktisch erfahren.

Die ausgewählten Tridems befinden sich seit Anfang April in einer dreimonatigen Konzeptionsphase, um ihre Kooperationen zu vertiefen, erste Bedarfe vor Ort zu ermitteln und gemeinsam das Projektkonzept und die konkrete Vorgehensweise zu schärfen. Die einjährige Umsetzungsphase beginnt im Juli 2024 und läuft bis Ende Juni 2025. In dieser Zeit sind Netzwerktreffen in Präsenz und online, eine wissenschaftliche Auswertung (siehe auch nebenstehend) und eine kontinuierliche Begleitung der Standorte durch den Bundesverband Soziokultur geplant.

Der Bundesverband verbindet mit dem Programm die Hoffnung, demokratiefeindlichen Tendenzen etwas entgegenzusetzen, oder anders formuliert: mit einem großen Ausrufezeichen Gesellschaft anders zu leben und dabei möglichst viele zum Mitmachen zu motivieren und dazu, eigene Positionen zu überdenken – ganz wie in der soziokulturellen DNA verortet. Gelebte Demokratie ist eine Notwendigkeit, aber auch ein Lebenselixier für die Soziokultur!


Die geförderten Projekte finden Sie auf https://soziokultur.de/programme/allzeitorte

Kristina Rahe

ist Referentin für Demokratiestärkung beim Bundesverband Soziokultur e.V. und leitet das Programm „Allzeitorte. Gemeinsam mehr bewegen“, das in Kooperation mit der Robert Bosch Stiftung GmbH umgesetzt wird.