Margret Staal: Warum sind Ihnen Bürgerräte als Form konkreter Demokratie so wichtig?
Claudine Nierth: Die Erfahrungen zeigen: Wer gefragt wird, wendet sich nicht ab. Und das gilt vor allem für die Politik. Wer die Demokratie stärken will, muss viele demokratische Erfahrungen initiieren, damit sich eine Kultur der Beteiligung und Selbstwirksamkeit überhaupt erst entfalten kann.
Die Beteiligung der Menschen in losbasierten Bürgerräten fördert darüber hinaus den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Gerade heute ist es wichtig, Menschen unterschiedlicher Meinungsblasen in einem Raum des Sprechens und Zuhörens miteinander in Kontakt zu bringen. Und die Bilanz der Erfahrungen ist erstaunlich! Während sich die Bubbles der Gesellschaft in sozialen Netzwerken, aber auch in beruflichen Zusammenhängen oder Wohnquartieren heftig bis zur Ausgrenzung bekämpfen, spielen sie in Bürgerräten keine Rolle. Politische Wahlpräferenzen oder ideologische Herkunftsgeschichten sind untergeordnet. Im Zentrum steht der Wille zu gemeinsam erarbeiteten Lösungen. Und hier liefern gerade verschiedene Blickwinkel den Mehrwert. Die Vielfalt wird hier als Bereicherung und Garant der Qualität erlebt.
Margret Staal: Welche Wege und Möglichkeiten sehen Sie, damit vor Ort wieder unmittelbare Gespräche und Kontakte entstehen und gepflegt werden?
Claudine Nierth: Viele Gemeinden und Städte versäumen es, ihre Probleme, Lösungsansätze und Projektvorhaben möglichst früh mit den Einwohnern zu kommunizieren, um deren Hinweise konstruktiv einzubeziehen.
Wenn beispielsweise eine Gemeinde jahrelang einen neuen Kitastandort sucht und die Bürger erst davon erfahren, wenn der erste Bagger rollt, dann ist das vor allem ein Kommunikationsproblem. Das führt zu Konflikt. Beispiele des Gelingens binden jedoch möglichst früh die Einwohner ein. Wie zum Beispiel die Stadt Rottweil mit über 25 000 Einwohnern in Baden-Württemberg. Die Stadt hat sich für den Standort und Bau eines Gefängnisses, einer neuen JVA, beim Land Baden-Württemberg mit dem Rückhalt der Bürger beworben. Sie hat ihr Vorhaben in professionellen Formaten erst mit den Einwohnern besprochen, mit ihnen den besten Standort gesucht und alle Vor-und Nachteile für die Stadt abgewogen. Im letzten Schritt hat sich die Stadt das Okay per Bürgerentscheid geholt. Mit Erfolg. Das Gefängnis befindet sich gerade im Baubeginn.
Margret Staal: Soziokulturelle Zentren sind seit 50 Jahren niedrigschwellige Dritte Orte der Kultur, Begegnung und (auch künstlerischen) Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen. Welche Potenziale zur Belebung der Demokratie sehen Sie in ihnen?
Claudine Nierth: Was die konstruktive Einbindung der Menschen betrifft, ist Baden-Württemberg gerade Vorbild unter den Bundesländern. Mit einer vom Land neueingerichteten „Servicestelle Bürgerbeteiligung“ können sich Akteure beraten und unterstützen lassen. Die Servicestelle berät kostenlos und übernimmt sogar Ausschreibungen und Kostenanteile für Bürgerbeteiligungen. Das Erfolgsrezept: Wer früh den Dialog – professionell und extern moderiert – mit den Bürgern organisiert, greift Konflikten vor und verhindert Polarisierung. Auch soziokulturelle Einrichtungen können hier Themen aufgreifen und vermittelnd beitragen. Aber auch niedrigschwelligere Dialogformate, wie zum Beispiel das von Mehr Demokratie entwickelte „Sprechen und Zuhören“, eignen sich gut für soziokulturelle Orte, um Menschen miteinander in Dialog zu bringen.
Zufällig zusammengesetzte Formate wie Bürgerräte bringen vor allem jene Menschen an einen Tisch, die sich oft zurückhalten oder eher leise im politischen Raum sind. Vorhabenträger, Planungsbüros oder Investoren wissen frühe Beteiligung zu schätzen, weil die Vorhaben durch die Einbindung der Menschen besser werden.
Beachtlich ist der Nebeneffekt: Die meisten Menschen eines solchen Beteiligungsprojektes bleiben politisch interessiert. Sie beginnen, sich ehrenamtlich zu engagieren, tragen aktiv bei und finden auch den Mut, in die Kommunalpolitik einzusteigen.
Claudine Nierth ist Politaktivistin, Künstlerin und Autorin. Als Bundesvorstandssprecherin des Vereins Mehr Demokratie e.V. setzt sie sich für direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung ein. 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. 2023 erschien beim Goldmann Verlag ihr neuestes Buch Die zerrissene Gesellschaft.