Ob die Toten Hosen, die Sportfreunde Stiller oder Die Ärzte – in Jamel in der Gemeinde Gägelow in Nordwestmecklenburg geben sich einmal im Jahr die Stars der deutschen Musikszene die Klinke in die Hand. 3500 Besucher*innen verhundertfachen die Einwohnerzahl von Gägelow, zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen von Gewerkschaften über das Landesforstamt bis zum Rock gegen Rechts Mecklenburg-Vorpommern e.V. nutzen „Jamel rockt den Förster“ für Demokratie und Toleranz, zum Vernetzen, Weiterbilden und selbstverständlich auch zum Feiern. Die Ministerpräsidentin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, sowie die Landtagspräsidentin Birgit Hesse sind Schirmherrinnen des Festivals, das das Ehepaar Lohmeyer seit 2007 auf seinem Grundstück im kleinen Jamel organisiert. Dabei sind Birgit und Horst Lohmeyer die einzigen Einwohner*innen Jamels, die nicht der dort massiv vertretenen rechtsextremen Szene zuzurechnen sind.
Beim Festival 2024 traten Olli Schulz, Die Fantastischen Vier, Selig und Elements of Crime vor 3500 Besucher*innen auf. In einer Podiumsdiskussion, die die Gewerkschaft ver.di organisiert hatte, tauschten sich Bettina Martin, Ministerin für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Nina Gühlstoff vom Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, Lisa Mangold von ver.di und Laura Armborst von Landesverband Soziokultur Mecklenburg-Vorpommern über die Bedrohung von Kunst und Kultur durch rechtsextreme, demokratiefeindliche Kräfte aus. Sie nahmen die aktuelle Lage unterschiedlich wahr. Während Angriffe und Bedrohungen das Staatstheater weniger betreffen, stehen einige soziokulturelle Einrichtungen im Fokus rechter Aggressionen und die AfD betont im Landtag, dass sie progressive Kultur nicht mehr fördern würde. Übereinstimmend wurden notwendige Schritte beschrieben: Strukturen zu erhalten, Künstler*innen abzusichern, sich zu vernetzen und neue Allianzen einzugehen, um gegebenenfalls – wie „Jamel rockt den Förster“ – auch ohne öffentliche Förderung agieren zu können.


Interview
Laura Armborst: Wie ist das Festival „Jamel rockt den Förster“ entstanden? Wie kommt es, dass so viele bundesweit und international bekannte Künstler*innen jedes Jahr im Sommer nach Jamel kommen?
Birgit Lohmeyer: Das Festival ist eine rein private Initiative von meinem Mann Horst und mir. Wir haben 2004 diesen alten Forsthof gekauft und bezogen und mussten ungefähr anderthalb Jahre später feststellen, dass ein regelrechter Besiedlungsstrom von rechtsextremen Familien in dieses kleine Dorf begann. Wir haben mittlerweile 95 Prozent bekennende und ihre Einstellung überhaupt nicht versteckende Rechtsextreme hier im Dorf. Jetzt ist das salonfähig, aber diese Menschen hatten schon damals keine Scheu, ihre Ideologie zu verbreiten. Als sie merkten, dass wir nicht ihrer politischen Meinung sind, haben sie begonnen, uns zu mobben, versucht, uns zu vertreiben.
Dem begegneten wir mit unserer intuitiven Strategie: sofort an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Bevölkerung muss sehen, muss lernen, was hier gerade passiert, wie es sich auf das Zusammenleben auswirkt. Wir haben also begonnen, Kulturveranstaltungen zu organisieren. Wir sind beide Kulturaktive; mein Mann ist Musiker, ich bin Autorin und Journalistin. Angefangen haben wir mit „Offene Gärten“ und „Kunst offen“, da hatten wir regen Zuspruch. Als drittes Standbein haben wir die Musik gehabt und ein kleines Musikfestival initiiert. Die erste Ausgabe mit 30 zahlenden Besucher*innen. Auch damals war dieses Dorf hier schon verrufen. Man fuhr einfach nicht nach Jamel.
Die Frage danach, warum „Jamel rockt den Förster“ mittlerweile dreieinhalbtausend Besucher*innen hat, stellt sich natürlich. Wir hatten im Laufe der Jahre, in denen wir hier geblieben und sehr offensiv mit der Besiedlung von rechts umgegangen sind, sehr viele Anfeindungen, Anschläge und Straftaten, die an uns verübt wurden. Das kulminierte 2015 in einer schweren Brandstiftung an unserer riesigen Scheune, die direkt neben unserem Wohnhaus stand. In der Nacht standen wir tatsächlich in Gefahr, obdachlos zu werden.
Wir schrieben noch in der Brandnacht, weil wir ohnehin nicht schlafen konnten, eine Pressemitteilung und waren am nächsten Tag sogar in der Tagesschau. Den Beitrag sahen die zwei Musiker der Toten Hosen, die über ihr Management angefragt haben, ob sie bei uns ein Benefiz-Konzert spielen können. Das fand dann tatsächlich in dem Jahr statt. Dazu muss man sagen: Diese Brandstiftung passierte zwei Wochen vor dem Festival und wir sind in arge Schwierigkeiten geraten, das Festivalgelände herzurichten, die Brandruine zu beräumen. Ohne Vorankündigung haben dann die Toten Hosen hier ihr Konzert gespielt. Weil sie so beeindruckt waren von dem, was wir hier leisten, sind sie nicht weggefahren, ohne uns zu versprechen: „Wir unterstützen euch weiterhin.“ Und das ist bis heute der Fall, die Agentur der Toten Hosen ist diejenige, die für uns das Booking macht. Sie hatte die glorreiche Idee, andere bekannte Künstler*innen anzusprechen, um uns zu unterstützen.
Jamel ist leider die Spitze eines Eisbergs. Diese Besiedlungsstrategie der rechten Szene ist schon Jahrzehnte alt und findet statt.
Birgit Lohmeyer
Laura: Ihr seid seit 20 Jahren in Jamel. Ihr wart vor den Nazis da, richtig?
Birgit: Ja. Mit einer Ausnahme, das muss man gleich richtigstellen. Es wohnte schon einer hier, Sven Krüger. Das war uns auch bekanntgemacht worden vor dem Kauf des Hauses und des Geländes. Wir haben uns das einfach zugetraut, naiverweise. Wir dachten, einen Nazi wird es wahrscheinlich in jedem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern geben, damit kommen wir schon klar. Aber dass diese Siedlungsstrategie der rechten Szene kurz nach unserem Zuzug hier in die Tat umgesetzt würde, das haben wir nicht erwartet. Sonst wären wir nie hierhergezogen. Wir werden auch manchmal mit Ideen konfrontiert wie „Ihr seid doch dahingezogen, um gegen rechts zu kämpfen“. Mitnichten. Wir wollten einen schönen, ruhigen Alterswohnsitz.
Laura: Ist Jamel etwas Spezielles oder kann eine solche Situation, eine völkische Besiedlung, überall passieren?
Birgit: Es passiert fast überall. Jamel ist leider die Spitze eines Eisbergs. Diese Besiedlungsstrategie der rechten Szene ist schon Jahrzehnte alt und findet statt. Zum Beispiel im Wendland, und auch in anderen Regionen in Niedersachsen. Es gibt überall in Deutschland kleine Ortschaften, in denen Häuser leer stehen, wenn alte Menschen sterben und die Kinder sie nicht übernehmen. Da wird reingegrätscht, da werden durchaus konzertierte Aktionen gemacht. So ist es auch in Jamel passiert. Die sind alle innerhalb eines Jahres hierhergezogen. Was wir natürlich aus Jamel gemacht haben, ist, dass man es kennt, dass man dieses Phänomen kennt. Wir sagen aber immer im zweiten Atemzug: Jamel ist nicht das einzige Nazidorf in Deutschland.

Laura: Das Festival „Jamel rockt den Förster“ bekommt viel Unterstützung von verschiedenen Initiativen und NGOs aus Mecklenburg-Vorpommern und auch durch die Schirmherrschaft der Ministerpräsidentin und der Landtagspräsidentin. Was würde sich ändern, wenn sich auf Landesebene der politische Wind dreht?
Birgit: Für das Festival würde sich, hoffentlich, nicht allzu viel ändern. Wir haben relativ bald entschieden, dass wir uns nicht von staatlicher Förderung finanzieren lassen wollen, wir wollten uns unabhängig machen. Wir haben eine Mischfinanzierung aus viel Spendenaufkommen, ein wenig Sponsoring und den Ticketeinnahmen. Wobei wir die Tickets immer sozialverträglich gering bepreisen. Das reicht bisher. Wir beantragen nichts beim Land oder beim Landkreis. Insofern sind wir zumindest finanziell unabhängig von parlamentarischen Mehrheiten. Was sich auf der untersten Ebene ändern wird, ist, dass die Schwierigkeiten, die uns die regionale Politik macht, nicht weniger werden, sondern, wenn wir Pech haben, mehr. Also: harschere Kontrollen, harschere Vorgaben, bis hin zu diesem leider existierenden Problem, dass wir auf die Gesamtgemeinde angewiesen sind. Die muss uns eine Fläche zur Verfügung stellen, die existenziell für unser Festival ist. Wir können nicht mit anderen Flächen arbeiten, wir benötigen genau diese Fläche, zum Beispiel zur Anlieferung der Bühnentechnik. Seit dem vorletzten Festival wurden uns massive Schwierigkeiten gemacht und es war fraglich, ob wir 2024 die Flächen wieder bekommen würden. Je mehr Stimmen rechtspopulistische, rechtsradikale Parteien und Wählergemeinschaften in Ausschüssen haben, desto mehr wird sich jemand, der das Festival überflüssig findet, empowert fühlen, aktiv dagegenzuwirken, dass es stattfinden kann.
Wir wollten uns unabhängig machen, weil wir nicht wollen, dass uns Kulturausschüsse vorschreiben, wofür wir stehen dürfen.
Birgit Lohmeyer
Laura: Es gab schon in diesem Jahr strengere Vorgaben. Hat sich die Situation über die Jahre verschärft oder gab es ein einschneidendes Ereignis in der Gemeinde Gägelow?
Birgit: Wir haben über die Jahre hinweg schon gespürt, dass man uns mit dem Festival eher als Störenfried empfindet, dass man die Unterstützung des Festivals also so schmal hält wie möglich. Man möchte sich ja nicht nachsagen lassen, dass man das boykottieren will, aber es wird eben auch nicht überschwänglich unterstützt. In der Gemeindevertretung haben mittlerweile zwei Rechtsextreme aus Jamel ihren Sitz. Es ist bekannt, dass in diesem Gremium auch andere Menschen dieser Ideologie etwas abgewinnen können. Diese Leute sind in freien Wählergruppen organisiert, also nicht eindeutig einer bekannten Partei und deren Linie zuzuordnen. Der Mensch, der uns zum Beispiel als Umweltverschmutzer anzeigte, ist jemand, dem gute Beziehungen zu Herrn Krüger nachgesagt werden. Und er ist Polizist.
Laura: Warum seid ihr als Umweltverschmutzer angezeigt worden?
Birgit: Wir hatten beim Festival 2023 eine kleine Stelle mit zertifiziertem Betonrecycling aufgefüllt, damit unsere Besucher*innen dort fußläufig sicher einen steileren Anstieg bewältigen können. Dieser Polizist kam auf die Idee, uns wegen Umweltverschmutzung anzuzeigen. Wir konnten nachweisen, dass es zertifiziertes, nicht umweltverschmutzendes Material war. Das hat uns wenig genützt und wir haben viel Geld für Anwälte ausgeben müssen, um diesem Vorwurf zu begegnen. Die Regionalzeitung mussten wir bitten, zu recherchieren und nicht nur die Informationen des Anzeigenstellers aufzunehmen. Es hat uns wahnsinnig viele Nerven gekostet, weil nicht klar war, ob sie uns im nächsten Jahr die Fläche wieder geben würden. Diese Entscheidung wurde von der Gemeindevertretung von Monat zu Monat vertagt.
Laura: Auf die Polizei seid ihr angewiesen. Auf die Zusammenarbeit zum Schutz des Festivals …
Birgit: Ja. Für die Künstler*innen und die Besucher*innen ist es sehr wichtig, dass die Polizei auf unserer Seite, auf der Seite der Demokratie, wirkt.
Laura: Das sollte selbstverständlich sein in einer Demokratie. Habt ihr gegenteilige oder auch gute Erfahrungen gemacht in der Zusammenarbeit mit der Polizei?
Birgit: Die Zusammenarbeit ist mittlerweile gut. Die war mal nicht gut, das ist aber schon lange her. Wir haben gelernt, dass es darauf ankommt, wie derjenige tickt, der an der Spitze steht. Seit Jahren haben wir gute Erfahrungen gemacht und es gibt eine gewisse Routine, wie das Festival geschützt wird.

Laura: Ihr macht doch nicht alles zu zweit. Wie seid ihr organisiert?
Birgit: Es gibt den Trägerverein des Festivals, den GFS e.V. (Gemeinsam für Frieden und Solidarität e.V.), er ist die juristisch verantwortliche Institution, die Agentur der Toten Hosen übernimmt das Booking für die große Bühne und dann gibt es sehr viele ehrenamtlich tätige Menschen, zwischen 50 und 100 ungefähr.
Laura: Was ist euer Wunsch an andere Kultureinrichtungen, wie Theater oder soziokulturelle Vereine?
Birgit: Dazu habe ich auf der Landeskulturkonferenz im Oktober 2024 einen Vortrag gehalten: Alle Menschen, die im Kulturbereich tätig sind, sollten sich nicht klaglos dem sich in die falsche Richtung Ändernden anpassen und im vorauseilenden Gehorsam Programme, Ausstellungen oder was auch immer canceln, weil es Ärger geben könnte, sondern wirklich stark sein, sich miteinander vernetzen. Wie gehen wir mit diesen Gefahren um, die definitiv da sind? Je mehr AfDler in Kulturausschüssen sitzen, umso härter wird es für uns alle werden, zumindest für die Institutionen, die sich über staatliche Zuwendungen finanzieren müssen. Nicht wegknicken, sondern gerade jetzt aufstehen. Nicht jede Kunst muss politisch sein, aber wenn Künstler*innen in dieser Zeit nicht den Mund aufmachen und sagen, in welcher Gesellschaft sie gerne leben möchten, dann ist das für mich verfehlt.
Laura: Wie können wir uns mehr lösen von der finanziellen Abhängigkeit, die häufig gleichgesetzt wird mit Neutralitätsgebot?
Birgit: Was ein Fake ist. Das stimmt nicht. Genauso wenig wie der gern zitierte Beutelsbacher Konsens, den viele Lehrkräfte als Verbot begreifen, gesellschaftspolitische Themen aus dem Schulunterricht herauszuhalten.
Laura: Das vemeintliche Neutralitätsgebot schüchtert aber erst einmal ein, macht Angst. Was empfiehlst du dagegen?
Birgit: Das Mittel der Wahl ist, sich zu informieren und sich zu vernetzen, um solchem Irrglauben entgegenzutreten. Zu wissen, dass man nicht die politische Neutralitätsnummer fahren muss. Und zweitens sollte man sich finanziell unabhängiger machen. Wer sich nur nach der Staatsknete streckt und sagt, das ist die einzige Möglichkeit, mich oder meine Institution am Leben zu erhalten und meine Kunst zu machen, hat irgendwann wirklich ein Problem – wenn er oder sie jetzt nicht aufsteht und sagt: „Ich will nicht, dass mir von einer Kulturbehörde, von Kulturausschüssen vorgeschrieben wird: ‚Du darfst dich nicht politisch äußern, du darfst nicht für eine offene, multikulturelle Gesellschaft eintreten.‘“
Laura: Was braucht die Demokratie von der Kultur?
Birgit: Sie braucht ganz viele Demokrat*innen, die aktiv sind, sich nicht scheuen, politische Statements abzugeben, und die sich als Multiplikator*innen verstehen. Denn das sind wir. Je erfolgreicher ein Künstler, eine Künstlerin ist, desto mehr Anhänger*innen und Einflussmöglichkeiten hat er oder sie. Das sollte man sich vergegenwärtigen.
Laura: Vielen Dank für das Gespräch – und für euer Engagement.
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Links:
Landeskulturkonferenz Mecklenburg-Vorpommern 2024
Rückblick | Birgit Lohmeyer (Video) | Birgit Lohmeyer (Text)
Festival „Jamel rockt den Förster“
Zeit Online Podcast | ARD Kultur Dokumentation
Völkischer Rechtsextremismus im ländlichen Raum
Amadeu Antonio Stiftung