Spielregeln

CORINNE EICHNER und TORSTEN WIEGEL sprechen über Veränderungen und Aufgaben im Umgang soziokultureller Akteur*innen mit Audio-Formaten

Torsten: Auf den ersten Blick mag‘s nicht so scheinen: Das Hören hat in zwischenmenschlichen Beziehungen tatsächlich kategoriale Bedeutung.

Corinne: Also, wie hören wir einander zu?

Torsten: Heute ganz anders als früher. Aus den Zeiten preußischer Erziehung kennen wir noch den Satz: Kinder sollen hören und gehorchen.

Corinne: Oder: Wer nicht hören will, muss fühlen. Das galt aber nicht nur damals für die Erziehung von Kindern, sondern wir beobachten es auch heute in patriarchal strukturierten Großfamilien, in obrigkeitsstaatlichen oder autokratischen politischen Systemen.

Torsten: Eben. Und sobald der Obrigkeitsstaat, die Autokratie oder der familiäre Gehorsam weg sind, tritt die Tatsache in Kraft, dass Freiheit Verantwortung bedeutet.

Corinne: Für uns ergibt sich die Frage: Welche Verantwortung entsteht daraus für die Soziokultur, wie können und wollen wir ihr gerecht werden?

Torsten: Was die äußeren Umstände betrifft, könnten wir beide innerhalb Deutschlands kaum von weiter entfernten Sternen kommen. Meinen Aktionsraum prägt das Kleinstädtisch-Ländliche. Bautzen hat in den letzten dreißig Jahren ein Viertel seiner Einwohner*innen verloren, darunter vor allem junge, gut ausgebildete mit Gestaltungselan.

In unserer Region haben die vergangenen Kommunalwahlen eine deutliche Verschiebung in Richtung des Rechtspopulismus gebracht. Das äußert sich beispielsweise darin, dass sich in der Partnerschaft für Demokratie viele heterogene Akteur*innen auf ein Projekt einigen und eine Mehrheit im Finanzausschuss fegt es einfach weg.

Corinne: Da bildet Hamburg mit seiner rot-grünen Bürgerschaft und einem Bevölkerungszuwachs von um die zwölf Prozent tatsächlich einen starken Kontrast, und mit den vielen migrantischen Familienwurzeln auch. Im Stadtteil Billbrook zum Beispiel leben mehr als 85 Prozent der Einwohner*innen in Familien mit Migrationserfahrung.

Torsten: Wir zeigen also einen der Spagate, in denen sich die Gesellschaft insgesamt befindet. Doch so unterschiedlich manche der politischen und gesellschaftlichen Bedingungen von Soziokultur in Sachsen und Hamburg  sind, unsere Kernaufgabe ist die gleiche. Damit Leute ihre Konflikte austragen können, müssen sie erst mal miteinander reden.

Corinne: Genau das scheinen viele aber zunehmend zu verlernen. 

Torsten: Den Eindruck habe ich auch. Es ist eben viel einfacher und angenehmer, sich in einer Bubble voller Gleichgesinnter regelmäßig Selbstbestätigung abzuholen, als sich auf Ansichten und Meinungen einzulassen, die einem nicht so gefallen.

Corinne: Diesen Rückzug in Bubbles haben wir in Hamburg wie überall. Bei uns kommt die Diversität der Communities dazu. Die Hamburger Einwohner*innen stammen aus zirka 170 Nationalitäten. Wenn in den Familien wenig oder gar kein Deutsch gesprochen wird, scheitert das Zuhören oft schon am einfachen Verstehen von Wörtern.

Torsten:  Zusammen mit dem Erzgebirgskreis hat der Landkreis Bautzen bundesweit mit zwei Prozent den niedrigsten Ausländer*innenanteil. Bei uns spielt in manchen Bevölkerungsgruppen das Nicht-Verstehen-Wollen eine viel größere Rolle als das Nicht-Verstehen-Können.

Es ist heute nicht unser Thema, zu analysieren welche Entwicklungen dazu geführt haben. Was wir aber als Tatsache, auch als Ausdruck von Wählerwillen zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen haben, ist  eine allgemein um sich greifende Distanzlosigkeit zu rechtsextremistischen Positionen.

Corinne: Für argumentative Auseinandersetzungen sind das schwierige Bedingungen.

Torsten: Du sagst es. Wenn wir daran etwas ändern wollen, müssen wir trotzdem konstruktiv damit umgehen. Inzwischen gehören hier die Montagsdemos der Leute, die die gegebenen demokratischen Auseinandersetzungsmöglichkeiten für nicht adäquat halten, zur gefühlten Normalität. Das Schlimme dabei ist, dass oft das Rechthaben-Wollen an die Stelle des demokratischen Streits tritt.

Corinne: Einfache Antworten oder Lösungen gibt es da ja nicht. Wo seht ihr denn die wichtigsten Ansatzpunkte für Auswege?

Torsten: Für Ostsachsen hängt viel davon ab, wie der Strukturwandel nach der Ära der Braunkohle gestaltet wird. Verstehen sich die Leute als wertgeschätzte, aktive Parts des Ganzen, oder eben nicht?

Soziokultur kann und muss sozusagen an der Quelle der destruktiven Energien ansetzen.  Viele fühlen sich hier im Grunde seit der Wende als etwas wie Spielbälle höherer Mächte. Im Kern geht es darum, dass Soziokultur dabei hilft, die Umwelt und das Zusammenleben als etwas Gestaltbares zu begreifen. Wir wollen und können ermöglichen, dass Menschen, vor allem junge Menschen, sich als selbstwirksam erfahren.

Corinne: Aus dieser Erfahrung, dass man selbst etwas bewirken kann, entsteht ein Selbstbewusstsein, das sich nicht aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe speist, sondern aus den eigenen Fähigkeiten, auch aus dem Bewusstsein, lernen zu können. Je mehr und je schneller sich überall Änderungen vollziehen, desto mehr brauchen wir das.

Torsten: Es ist eben Voraussetzung für gelingende soziale Interaktion, gerade wenn, wie in den letzten Jahren, eine Krise die andere jagt.

Corinne:  Wir brauchen das auch für die Veränderungen, die sich unter anderem aus technischen Entwicklungen ergeben. Ein paar Hausnummern für das Thema Audio: Ende der 1880er Jahre gab es das erste einsatzfähige Telefon und den ersten Phonografen, die erste Schelllackplatte 1896, deutsches Radio in den 1920ern, kabellose Transistorradios in den 1950ern, Tonbandkassetten in den 1960ern, Walkman und Disketten in den 1980ern. Seit etwa 2010 wird gestreamt.

Torsten: Im Blick auf die soziale Evolution ist das ein atemberaubender  Prozess. Nachdem Menschen über die Jahrtausende zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein mussten, um sich gegenseitig zu hören, können sie das jetzt ganz unabhängig  von beidem.

Corinne: Zwischen den ersten Tonaufzeichnungen und mobilen Radios oder dem Walkman lagen Generationen. Das Internet und Smartphones waren noch mal besondere Gamechanger. In den letzten acht Jahren haben sich durchgreifendere Veränderungen vollzogen als in den 150 Jahren zuvor. Meine Töchter hören kaum noch Radio. Sie streamen und suchen sich ihre Podcasts je nach Interesse zusammen.

Torsten: Das Radio wurde ja schon mehrmals totgesagt und es existiert auch nicht mehr in der rein linearen Form von Senden hier und gleichzeitig hören dort. 

Corinne: Die Macher*innen von freiem oder Bürger-Radio stellen ihre Sendungen genauso ins Netz, wie es Podcaster*innen auch tun. In der Regelnutzen die Redaktionen Social Media, um auf ihre Programme hinzuweisen und mit ihren Hörer*innen zu kommunizieren.

Torsten: Das heißt aber auch: Jetzt herrscht die Gleichzeitigkeit von allem überall, ein sprichwörtlich pandemisches Übermaß an Informationen, Inhalten und Angeboten, dazu technische Umgebungen, in denen sich relativ leicht Ton- und/oder Bildproduktionen selbst herstellen lassen.

Corinne: In der Motte in Hamburg gibt es für Heranwachsende die „Ohrlotsen“. Dort beobachten die Projektleiter*innen, dass es in den letzten knapp 15 Jahren technisch tatsächlich viel einfacher geworden ist, Audio-Produktionen zu realisieren. Gleichzeitig haben aber die Zuhörkompetenz, die Konzentrationsfähigkeit und die Fokussierung nachgelassen. Die Aufmerksamkeitsspannen verkürzen sich. Die Kinder und Halbwüchsigen benutzen häufiger Hass-Sprache. Jugendliche stehen unter einer Art Dauerdruck, sich in Szene zu setzen … Es ist eine Herausforderung, damit altersgerecht umzugehen. Zwar gilt nicht die Prämisse: Kinder müssen hören. Aber sie sollten gut zuhören können. Mit der Zuhörkompetenz wächst auch die Sprachkompetenz. Es gibt hier Schulen, in denen fast alle Schüler*innen aus Familien mit Migrationshintergrund kommen. Die Produktion von Hörspielen oder ganzen Radio-Sendungen ist nicht zuletzt sehr effiziente außerschulische Bildung.

Torsten: Das Steinhaus in Bautzen hat sich der Förderung von künstlerischem Nachwuchs verschrieben. Ob es um Bands, Podcasts oder Live-Formate wie Open Mics geht, Bildung ist immer ein wichtiger Aspekt. Wir arbeiten im „Mediennetzwerk Lausitz“ mit. Das engagiert sich für Medienkompetenz, für Orientierung und Beteiligung.

Oft genug sind es ja die einfachen Dinge, die dann doch nicht ganz so einfach zu machen sind. Wer sich orientieren will, muss erst mal wissen, dass Audio-Sendungen oder -Produktionen nichts einfach so Gegebenes, sondern etwas Gemachtes sind, muss versuchen, die Quellen von Informationen oder die Qualität von Techniken zu beurteilen.

Corinne: Wenn wir über Soziokultur und Audio reden geht es eben nicht um den Konsum von Hörbarem.

Torsten: Das ist der Punkt. Es geht nicht um Konsum, es geht ums Mitspielen. Das trifft übrigens auch auf die Demokratie zu: Man kann sie nicht im Sinne einer Zuschauerdemokratie konsumieren. Man muss nicht nur zustimmen oder ablehnen, man muss mitmachen. Und wer mitspielen will, muss die Regeln kennen. Deshalb nimmt bei uns die Auseinandersetzung mit dem Medien- und Urheberrecht wichtigen Raum ein. Das Spektrum unserer Audio-Produktionen reicht von Blödelei bis zur politischen Bildung. Unfug darf also durchaus  getrieben werden, aber  ohne Verletzung der Spielregeln.

Corinne: Es macht eben einen großen Unterschied, ob jemand allein mit sich ungezügelt seinen Frust in ein Mikro rotzt oder ob er sich in einem kritischen Produktionsraum mit anderen befindet.

Wir sind wieder bei dem Thema von vorhin: Dass keine Eltern dabei sind, bedeutet, man hat selbst die Verantwortung für das, was man sagt. Und das Recht auf Meinungsfreiheit heißt nun mal nicht Recht auf allgemeine Zustimmung oder Recht auf Widerspruchsfreiheit. Dies als einen Lernprozess zu gestalten, der Spaß macht, ist eine wichtige Aufgabe.

Torsten: Während der härtesten Corona-Phasen hat das Auditive für die Akteur*innen der Soziokultur eine besondere Rolle gespielt.

Corinne: Es war ja eine der ganz wenigen Möglichkeiten, überhaupt mit den Nutzer*innen und Projektteilnehmer*innen in Kontakt zu bleiben. Podcasts, Audiowalks und Audioskulpturen sind in allen Bundesländern wie Pilze aus dem Boden geschossen. In Hamburg hat sich das Sasel-Haus außerdem für die älteren Bürger*innen, die stark durch Einsamkeit gefährdet waren, ein telefongebundenes Audioprojekt einfallen lassen. Sie gewannen Schauspieler*innen, literarische Texte auszuwählen, die sie den Anrufer*innen vorlasen.

Torsten: Gut, dass du das erwähnst. Wir haben ja die ganze Zeit eher über jüngere und ganz junge Leute gesprochen. So sieht aber die Bevölkerung insgesamt nicht aus. In Bautzen und dem Landkreis leben überdurchschnittlich viele ältere und sehr alte Menschen. Viele von ihnen haben Hemmungen, sich auf alles, was Internet heißt, überhaupt einzulassen. Damit kommt ihnen absehbar Teilhabe abhanden. Auditive Formate können ein niedrigschwelliger Weg sein, um ihnen die Nutzung des Internets zu erleichtern.

Corinne: Das sollten wir nutzen.

Torsten Wiegel

ist Vorstandsvorsitzender des Landeverbands Soziokultur Sachsen und Geschäftsführer des Steinhaus Bautzen e.V.

Corinne Eichner

ist Vorstandmitglied des Bundesverbands Soziokultur und Geschäftsführerin von STADTKULTUR HAMBURG