Im Oktober 2022 hat der Landesverband Soziokultur Niedersachsen seine Mitglieder befragt, wie es ihnen infolge der Corona-Pandemie geht. Die Beteiligung war hoch, die Ergebnisse erschreckend: 45 Prozent weniger Besucherinnen; ein Einnahmerückgang im Veranstaltungsbereich um 43 und in der Gastronomie um 32 Prozent. Die größten Herausforderungen lagen bei der Suche nach neuen Mitarbeiterinnen, dem Rückgang von ehrenamtlichem Engagement und der Zunahme von krankheitsbedingtem Personalausfall. Begegnet wurde der Situation in den Zentren mit neuen Marketingstrategien, neuen Angebotsformaten, verstärkter Kooperation, besserem Kontakt zu den Besucherinnen und mehr Austausch im Team. Diese Veränderungsprozesse wollte der Landesverband begleiten und unterstützen und hat deshalb im November 2022 eingeladen, um gemeinsam die durch die Krisen entstandenen Bedarfe zu diskutieren. In zehn unterschiedlichen Werkstätten arbeitete man zu Fragen wie dem Umgang mit der Situation im Team, dem sich verändernden Publikum, neuen Marketingkonzepten und Veranstaltungsformaten, Zukunftsvisionen und Zielgruppen, Zusammenarbeit mit der Kommune und in Netzwerken und dazu, welche Kompetenzen es in der Krise braucht. Ganz deutlich wurde dabei ein großes Bedürfnis nach Zusammenhalt, nach mehr insbesondere finanzieller Unterstützung und neuen Konzepten. Ganz deutlich war der Wunsch, stärker am „Wir-Gefühl“ zu arbeiten – sowohl im Team als auch zwischen den Einwohnerinnen des jeweiligen Umfelds –, Vernetzung und Teilhabe zu stärken und mehr ins Gespräch zu gehen. Die Teilnehmer*innen formulierten neben dem Bedürfnis nach finanzieller Unterstützung auch das nach mehr Zeit und Freiräumen für Kreativität und Visionen, nach mehr gemeinsamen Workshops und Netzwerkabenden sowie mehr Austausch mit der Politik. Um neue Konzepte umsetzen zu können, braucht es verlässliche Förderung, Spontaneität, Offenheit und Experimentierräume.
Um diese Ergebnisse zu vertiefen und zu konkretisieren, stehen bei der Tagung „Freiräume zum Denken“ im Mai 2023 Visionen und Austausch im Mittelpunkt: Beteiligungsorientierte Formate, Veränderungsprozesse und das gemeinsame Tun sind die zentralen Achsen.
Dunkle Gedankenwolken, drängende Aufgaben, Finanzsorgen … All das tröten die Teilnehmenden lautstark durch lange Abluftschläuche aus den Fenstern des KAZ in Göttingen und lassen es vom Winde verwehen, um frei von Belastungen in den Freiraum zum Denken einsteigen zu können. An der Garderobe können sie ihren Alltagsstress abgeben und wer mag, lässt sich bunte Schmetterlingsflügel ankleben. Das muntere Get-together ist der Einstieg in eine klug aufgebaute Tagung, mit der die Teilnehmer*innen vom freien Assoziieren zu kreativer Gemeinschaftsarbeit gleiten, um am Ende konkrete Veränderungsschritte für ihre Vereine und Zentren zu formulieren. Tatsächlich, sie gleiten. Das liegt nicht allein an den Schmetterlingsflügeln, sondern an Aishe Spalthoff, Nadja Sühnel (Syndikat Gefährliche Liebschaften) und Kaja Jakstat (Kulturbüro Zwei Eulen), die durch den Tag führen und das Konzept mit dem Landesverband Soziokultur Niedersachsen erarbeitet haben.
Glitzer, Flausch, Lego, Stäbchen, Kugeln, Kleber: Die Tische für die Kleingruppenarbeit zu den Zukunftsvisionen sind gedeckt. Und so wird getürmt, geklebt und vor allem engagiert diskutiert über das, was die Soziokultur in Zukunft ausmacht. Bunte Skulpturen veranschaulichen Räume zum Experimentieren, Netzwerke, Zusammenhalt, Flexibilität, Strahlkraft, Austausch, Diversität, Spontaneität und Teilhabe. Die Zukunftsvisionen stehen unter dem Stern der Wertschätzung, guter finanzieller Absicherung, Beweglichkeit und dem Überwinden von Grenzen.
Energiegeladen durch das luftige Denken und gemeinsame Tun nimmt das Entwickeln von Strategien rasch an Fahrt auf. Womit fangen wir an? Wann fangen wir an? Und was brauchen wir dafür? Mit diesen handfesten Fragen bringen neu zusammengesetzte Kleingruppen es schnell zu konkreten Handlungskonzepten. Die Arbeitsgruppe „Zeit freischaufeln“ beispielsweise denkt darüber nach, wie sich monatlich zehn Stunden in der Alltagsarbeit einsparen lassen, um mehr Zeit für konzeptionelles Denken und guten Wissenstransfer zu haben. Zum Ziel führen könnte das Nutzen der Hierarchien, ein sparsamerer Umgang mit Sitzungen und das Lokalisieren der Zeitfresser. Ein Projekt für mehr Austausch zwischen den Zentren der AG „Work and Travel“ schlägt vor, dass die Mitarbeiter*innen ihre Arbeitsplätze zentrumsübergreifend für Monate tauschen. Die AG „Fame“ überlegt, wie die Soziokultur mehr Glanz und Sichtbarkeit bekommt. Hierfür werden unterschiedliche Ideen und Kampagnen entwickelt, um beispielsweise darzustellen, dass statistisch alle fünf Sekunden jemand in ein soziokulturelles Zentrum geht. Ein größeres Bewusstsein für das scheinbar Selbstverständliche im Umgang miteinander ist das Thema der AG „Wertschätzung“. In der AG „Rausgehen und Einladen“ geht es um mehr Außenkontakte und wie es gelingen kann, einen guten und vor allem kurzen Draht zu den richtigen Personen zu pflegen. Und die AG „Radikal“ macht sich für eine neue Form der Kulturförderung stark. Hier haben sich mehrere Personen gefunden, die nach der Tagung an einem Antrag schreiben, um ein tragfähiges bundesweites Konzept für die Umsetzung zu erarbeiten.
Einen fulminanten Abschluss bildet die Präsentation der Ideen: Die Teilnehmenden kommen „zehn Jahre später“ zusammen und berichten, wie es ihnen gelungen ist, die Pläne umzusetzen. Es gibt tosenden Applaus und Kirschlikör.
Damit diese Umsetzung auch wirklich gelingt und Raum zum Austausch bleibt, bietet der Verband gemeinsam mit Aishe Spalthoff die Zoom-Reihe „Freiraum“ an: sechs Veranstaltungen zu Themen des Projektmanagements und viel Platz für kollegiale Beratung. Themen sind zum Beispiel: Zielsetzung und Priorisierung im Alltag – Was ist gerade am wichtigsten?; Veränderungen denken – Modelle für Veränderungsprozesse; Entscheidungen treffen (Entscheidungswerkzeuge und: Wer entscheidet was?); Delegationsstufen (zwischen Selber-Entscheiden über Gemeinsam-Entscheiden zu „Du entscheidest“); Wie funktionieren gute Besprechungen?; Retrospektiven – durch regelmäßiges Zurückschauen die zukünftige Arbeit verbessern; Zuhören – eine vernachlässigte Fähigkeit im Fokus.
Dieses Angebot soll kostenfrei zur Verfügung gestellt werden, um so Kontinuität zu fördern und Austausch und Zusammenarbeit zu unterstützen.