Sachsen gibt mit 244 Euro pro Kopf und Jahr von allen Flächenländern den weitaus höchsten Förderbetrag für Kultur aus. Sein seit 1994 geltendes Kulturraumgesetz gilt unter Expert*innen als nachahmenswert. Es definiert fünf ländliche und drei städtische Kulturräume und: deutschlandweit erstmalig Kultur als Pflichtaufgabe mit Gesetzesrang. Die Fachöffentlichkeit ist in Kulturbeiräten an Förderentscheidungen beteiligt.
Freital gehört zum ländlichen Kulturraum „Meißen-Sächsische Schweiz-Osterzgebirge“. Anders als die meisten europäischen Städte ist es nicht langsam um ein Zentrum aus Kirche und Markt gewachsen, sondern erst vor hundert Jahren als Zusammenschluss von sieben Industriedörfern gegründet worden.
Schaffen oder nicht
Die Stadt erlebt 2002 das verheerende Hochwasser als tödliche Zerstörung, aber mit ihm auch eine große kollektive Grunderfahrung von Solidarität und gemeinsamer Handlungsmacht.
Ein gutes Dutzend Jahre später beschließt 2015 der Kreis, das ehemalige Hotel „Leonardo“ vorübergehend als Erstaufnahmeeinrichtung zu nutzen. Ohne das zuvor mit den Anrainern zu besprechen. Die protestieren und demonstrieren, zunächst aus Gründen, die die braven Bürger*innen von Hamburg-Blankenese gegebenenfalls auch hätten. Die Situation eskaliert, bevor die Stadtgesellschaft sich irgendwie zu dem Konflikt verhalten kann. Ausländerfeinde und Antifa reisen von sonst wo an und bestimmen den Schauplatz. Es kommt zu radikaler physischer Gewalt. Überregionale Medien befassen sich mit dem Skandal. Da sie um Aufmerksamkeit konkurrieren, leisten sie sich den Luxus differenzierter Darstellung nicht. Mit immer noch drastischeren Meldungen und Bildern zu barbarischen Entgleisungen versuchen sie, möglichst auf dem Peak der Erregungskurve zu sein. Was Freital an Geist, Charme, Fleiß und positiver Energie zu bieten hat, geht dabei unter. Viele, die hier um das Gemeinwohl bemüht sind und kommunale Verantwortung tragen, fühlen sich geohrfeigt. Als Angela Merkel den Satz „Wir schaffen das“ sagt, hat man hier das Gefühl: Wir schaffen das ganz und gar nicht.
Im gleichen Zeitraum kommt der für Meißen, die Sächsische Schweiz und das Osterzgebirge zuständige Kulturbeirat zu dem Ergebnis: Die Freitaler Soziokultur muss gefördert werden. Weil es bislang kein förderfähiges Zentrum gibt, holt der Stadtrat örtliche Akteur*innen an den Tisch.
Darunter Kerstin Mager-Baran.
Kritische Intelligenz, Energie und Charakter
Sie wächst zum Teil bei ihren SED-treuen Eltern in Thüringen, zum Teil bei ihren kritischen, musisch hochgebildeten Großeltern aus Dresden auf. Von den Eltern nabelt sie sich ab. Kurz vor dem Abi schwänzt sie Schulstunden, um die Stasi-Zentrale zu besetzen. Es gelingt ihr, einen der raren Studienplätze für Kulturwissenschaft zu ergattern. Gleich im ersten Studienjahr nimmt der Austausch der ostdeutschen Eliten Fahrt auf. Kerstin kann nicht so schnell gucken, wie ihr Institut abgewickelt wird und die klugen, kritischen Dozenten Taxis chauffieren. Statt derer „schicken sie uns die dritte Garnitur aus dem Rheinland“, sagt sie. Ihr Studium setzt sie mit Soziologie und Kulturmanagement fort, erwirbt außerdem alle Ausbildungen und Zertifikate, die man für das Tanzen im Laienbereich nur erlangen kann, wird Mutter von sechs Kindern, arbeitet zwanzig Jahre lang als Tanztrainerin freiberuflich, vor allem mit Kindern und Jugendlichen. Im Januar 2015 räumen sie und ihr Gefährte das Schlafzimmer aus. Bis Oktober 2016 lebt darin eine aus Syrien geflohene Familie.
Folgenreiche Tatsachen
„Wer vernünftig handeln will“, sagt Kerstin, „der muss vor allem erst einmal Tatsachen als Tatsachen anerkennen.“ Diese Maxime gilt auch für die Gruppe von Akteur*innen, die sich ab 2015 zum Ziel gesetzt hat, in Freital eine förderfähige soziokulturelle Struktur aufzubauen.
Eine Tatsache ist: Alle großen globalen Konflikte wie Russland – Ukraine, Palästina – Israel, politischer Islam – Religionsfreiheit, ökologischer Umbau – Konsum und Mobilität, Fakt – Fake – Verschwörung, sie spielen sich auch zwischen den Haustüren von Freital ab.
Eine weitere: Fast ein halbes Jahrhundert lang vergleichen die Hiesigen täglich die offiziellen Verlautbarungen mit einer ganz anderen realsozialistischen Wirklichkeit. Als Folge dieser und der Wende-Erfahrungen entwickeln sie ein spezifisches Sensorium für die Wahrnehmung politischer Signale. Besonders erhabenen oder wohltönenden Phrasen begegnen sie mit besonderem Argwohn. Konflikte entwickeln sich hier schneller, lauter, härter.
In Sonntagsreden wird den Ostdeutschen regelmäßig für die friedliche Revolution über den Kopf gestrichen. Die große Masse der Leute geht 1989 für Reise-, Konsum-, Presse- und Meinungsfreiheit auf die Straßen und mit einer ganz konkreten Vorstellung von Demokratie: Sie wollen vor allem nicht länger für dumm verkauft und die staatliche Vormundschaft los werden.
Steine des Anstoßes
Die Vormundschaft haben sie tatsächlich für ein paar Monate vom Hals. Doch sie kehrt mit verändertem Vorzeichen und kleinteilig in Gestalt Westdeutscher auf allen Spitzenpositionen in der Politik, der Bildung, der Wissenschaft und Wirtschaft zurück. Das bewirkt ein Gefühl kollektiver Demütigung.
Der Blick Ostdeutscher auf Friedens- und Bündnispolitik ist mehr oder weniger bewusst durch ihre Erfahrungen mit der Sowjetunion geprägt. Die nennen sie damals spöttisch den „großen Bruder“ und konstatieren damit ausdrücklich kein Bündnis auf Augenhöhe. So quer Teile der DDR-Bevölkerung während der Jahrzehnte zu ihrer Staatsführung auch liegen, mit der auf Weltfrieden und Abrüstung gerichteten Außenpolitik gehen fast alle d’accord. Viele trifft es ins Mark, dass die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschiert und um den Preis von mehr als 26 000 eigenen toten Soldaten und Abermillionen verschossenen Rubeln zehn Jahre später wieder abzieht. Für nichts.
Nach 9/11 erklären die USA Afghanistan den Krieg. Die dort herrschenden Taliban haben sie bis vor zwölf Jahren selbst nach Kräften gegen die Sowjets gepowert. In Freital glauben viele nicht, dass das der richtige Weg ist, um islamistischen Terrorismus zu bekämpfen. Sätze wie der von der am Hindukusch zu verteidigenden Freiheit, von der uneingeschränkten Solidarität oder der unverbrüchlichen Freundschaft mit den USA erzeugen mehr Misstrauen als politische Sympathie.
In den Folgejahren erschüttern immer wieder islamistische Horrorakte Europa.
Die Strategie rechtsextremer Kräfte und Netzwerke, Ängste und Frustrationen der Leute in dezidierten Ausländerhass und Staatsfeindlichkeit zu kanalisieren, zeigt Ergebnisse. Mit Pegida, in Freital Freigida, sind ab 2015 auf den Straßen laute, schrille, destruktive Stimmungen unterwegs.
LIFEART
Die Akteurinnen, die an dem Konzept für das Freitaler soziokulturelle Zentrum arbeiten, tun das Klügste, das man in der explosiven Atmosphäre nur tun kann. Als erstes stellen sie fest: Die Stadtgesellschaft braucht unbedingt neues Vertrauen in die eigenen konstruktiven Kräfte. Das entsteht nicht, indem man sich dauernd gegenseitig die Unvereinbarkeit der jeweiligen Ansichten demonstriert. Es muss vielmehr gelingen, dass die Leute in dem Nahbereich, in dem sie tatsächlich etwas bewirken können, ihre gestalterische Potenz unmittelbar erfahren. Dabei kann Kunst entscheidend helfen. Kerstin weiß aus dem Tanz um die beinahe magische Wirkung künstlerischer Produktion. Tanz ist eben weit mehr als die rhythmische Koordinierung diverser Muskelaktionen. Wer tanzt, setzt die innere Welt in Beziehung zur Äußeren, drückt sich selbst aus, lernt es, die Gegenüber besser zu lesen. Wird Kunst, auch durchaus laienhaft, gleichzeitig selbst und gemeinsam ausgeübt, so ist sie ein Springquell für emotionale Intelligenz und soziale Kompetenz. Nach enormen Anstrengungen entsteht 2016 LIFEART. Das ist eine Art Dachverein für inzwischen 15 Vereine der verschiedenen Freitaler Stadtteile. Das inhaltliche Spektrum reicht von Fasching und Elferrat über Musik, Chor, Senioren, Familie, Malen, Nähen, Events bis Tanz. #

LIFEART geht davon aus, dass Menschen dann am motiviertesten und kreativsten sind, wenn sie eigene Ideen realisieren. Deshalb konzipiert LIFEART hochpartizipative Projekte. Der Dachverein will all denjenigen, die Ideen für gemeinsame Projekte und Aktionen umsetzen wollen, als ermöglichende und ermutigende Struktur zur Verfügung stehen. Das schließt administrative Aufgaben wie das Koordinieren des Betriebs von Räumlichkeiten an acht Standorten ebenso ein wie Antragstellungen für Fördermittel. Das Konzept funktioniert. Die Projekte und Events strahlen Lebensfreude in die Stadtteile aus. Die Zahl der Besucherinnen und Teilnehmer*innen wächst genauso, wie das Netzwerk selbst.
Zuspitzungen
2017 gewinnt die AfD mit Frauke Petry und großem Abstand das Direktmandat für den Deutschen Bundestag. 2019 zieht sie mit fast 26 Prozent als stärkste Fraktion in den Freitaler Stadtrat.
2020 drückt die Pandemie auf die Gesellschaft. Die einen fürchten sie und wollen größtmögliche Vorsicht, andere ertragen den Anblick ihrer eingesperrten Kinder nicht. Auch das zerreißt die örtliche CDU. Aus ihr gründet sich die „Konservative Mitte“ aus. Deren Fraktionsvorsitzender im Stadtrat, Uwe Jonas, arbeitet mit Kerstin im Leitungsteam von LIFEART.
Nach dem Motto, der erste kommt am sichersten raus, zieht sich 2021 die USA ohne Rücksicht auf ihre Verbündeten aus Afghanistan zurück. Die verzweifelten Menschentrauben wenig später an deutschen Flugzeugen auf dem Kabuler Flugplatz bleiben in Freital nicht ohne Wirkung. Man fragt: 16,4 Milliarden Euro, unzählige Tote, wofür eigentlich?
2022 überfällt Putins Armee die Ukraine. In Kerstins früheres Schlafzimmer ziehen eine Großmutter, eine Mutter und ein Enkelkind aus Kiew ein. Die meisten Freitaler*innen sind erschüttert über die Wiedergeburt des Stalinismus in der Russischen Föderation und über deren Aggression nach außen. Dass die Russen die ewig Bösen sind, glauben sie aber ebenso wenig wie an die USA als die ewig Guten. Um den Irak-Krieg zu rechtfertigen, hat sie ja rundheraus gelogen, hat Kanzlerin Merkel ausspioniert und mit Präsident Trump von Europa verlangt: Kauft unser teures! Fracking-Gas, kauft unsere Waffen. Europa tut jetzt beides, stellt man in Freital fest, dazu die Unmöglichkeit, für eine der beiden Seiten Partei ergreifen zu können. Wer ihn registriert, nimmt den Höhenflug der Aktien für Rüstungskonzerne nicht als zufälligen Kollateralnutzen.
2023 brennt kurz vor der Stadt die Sächsische Schweiz.
Die Konflikte um Krieg, Frieden und die ökologische Transformation, der Eindruck, dass nichts nach vorn geht, führen zu einer Grundaggressivität in der Stadt. Kerstin hört, was oft gedacht wird: „Wir wählen die AfD nicht wegen, sondern trotz Höcke. Da sich nichts ändert, muss es halt krachen, wir fahren das Ding jetzt geordnet gegen die Wand.“
Gefährdete Kostbarkeit
LIFEART arbeitet mit einer Grundvereinbarung: Parteipolitik bleibt draußen. Solange sie die gemeinsame Arbeit nicht behindert. Tut sie es doch, dann muss geredet werden. Bis es weh tut.
Die unzähligen Veranstaltungen, die unter dem Dach von LIFEART quer durch Freital und in hoher Frequenz stattfinden, bilden ein positives Gegengewicht zu den wachsenden Frustrationen.
Allein, dass hier hunderte Menschen unterschiedlicher Ansichten praktisch und pragmatisch in einem Netzwerk zusammenarbeiten, dass sie sich auch bei Müdigkeit aufeinander verlassen können, ist eine Kostbarkeit.
Gewinnt die AfD die nächsten Wahlen, steht es schlecht darum.
Kerstin Mager-Baran arbeitet ehrenamtlich im Leitungsteam von LIFEART, Freital