Rechte Kräfte sind nicht nur in Deutschland wieder im Aufmarsch. Demokratie und der europäische Konsens eines vielfältigen Miteinanders scheinen heute gefährdeter denn je. Die Werte, auf die sich die EU gründet, so wird es im Gründungsvertrag formuliert, „sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“ (Artikel 2 der EU-Verfassung). Für die Umsetzung dieser Vision spricht die EU der Kulturpolitik eine entscheidende Rolle zu.[1]„Die Union leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt […].“ Mehr noch: Die Mitgliedsstaaten werden aufgefordert, in allen Entscheidungsprozessen kulturelle Dimensionen zu berücksichtigen, „insbesondere zur Wahrung und Förderung der Vielfalt ihrer Kulturen“ (Absatz 5).
Zwei Aspekte erscheinen uns besonders interessant: Erstens wird die Definition von Kultur sehr weit gefasst und bezieht sich nicht allein auf das vermeintlich „Schöne“, sondern kann auch dort ihre Wirkung entfalten, wo Menschen um die Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders in der sich verändernden Welt ringen. Zweitens unterstreicht der Vertrag die Bedeutung von Kultur, Multiperspektivität zu fördern: Einerseits werden gemeinsame Grundlinien und Ziele formuliert, andererseits wird die Umsetzung dieser (kultur-)politischen Ziele der Hoheit der einzelnen Länder zugeordnet, die somit sehr divers ausfällt. Auf diese Weise erhält Kulturschaffen eine Schlüsselfunktion. Es orientiert sich an gemeinsamen Werten und verhandelt diese mittels vielfältiger kultureller Praktiken und vor dem Hintergrund unterschiedlicher kultureller Annahmen. Seine Akteur*innen bewegen sich demnach stets im Spannungsfeld demokratischer Multiperspektivität.[2]

Seit ihren Anfängen hat die Soziokultur eine ähnliche Rolle der Vermittlung und Aushandlung von demokratischer Multiperspektivität inne. Kulturzentren in Stadtteilen jenseits der Elfenbeintürme, Projekte mit denjenigen, die den Musentempeln oftmals fernbleiben, neue Themenfelder und Methoden – all das gehört zum Alltag soziokultureller Demokratieförderung. Auf diese Weise trägt die DNA der Soziokultur das in sich, was das Ansinnen „Kultur als politische Querschnittsaufgabe“ im Sinne der formulierten europäischen Werte meint. Doch warum nehmen trotz dieser vielseitigen soziokulturellen Projekte antidemokratische und menschenverachtende Tendenzen überall zu? Die jüngst herausgegebene Studie „Die distanzierte Mitte: Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland“[3] offenbart, dass dort, wo die vermeintlich idyllischen Dörfer zu finden sind, dem Aufstieg rechtsextremen Gedankenguts viel zu wenig Steine in den Weg gelegt werden.
Welche Strategie verfolgt die Soziokultur zur Stärkung der Demokratie auf dem Land? In Europas Dörfern, insbesondere jenseits der Speckgürtel, ist es schlichtweg nicht so einfach, Fördermittel zu generieren und Strukturen der Ermöglichung für diejenigen zu schaffen, die sich vor Ort für ein zeitgemäßes Miteinander einsetzen wollen. Die ersten Auswertungen unserer Studie im Rahmen des EU-Forschungsprojekts IN SITU zeigen, dass europäische Kulturpolitik immer noch überwiegend auf urbane Bedarfe ausgerichtet ist. Wenn ländliche Räume im Fokus stehen, werden primär die Förderung des kulturellen Erbes und der damit verbundene Kulturtourismus fokussiert. Niedrigschwelliges, Kleinteiliges, all jenes, was von place-based needs und lokalen Gegebenheiten ausgeht, hat es schwer, ein Förderprogramm zu finden.
Dabei könnte die EU-Förderung die vorhandenen Strukturen der Soziokultur stärken. Denn diese ist seit ihren Anfängen ganz nah an dem, was die Menschen vor Ort bewegt. Sie trägt einiges dazu bei, Demokratiepraxis als gesellschaftliche Mitgestaltung einzuüben, oft spielerisch und künstlerisch, vor Ort und auf Augenhöhe. Soziokultur agiert dort, wo Menschen sich abgehängt fühlen und die großen Transformationsprozesse in kleinen Systemen lähmende Verlustängste auslösen. Doch wie steht es mit dem gleichberechtigten Miteinander zur Demokratiestärkung innerhalb der Soziokultur? Wie steht es zum Beispiel hier mit der Gendergerechtigkeit? Kultur von allen, für alle, mit allen?
Gendergerechte Teilhabe? Rollenverteilung aus Perspektive der Gender-Studies
Der Blick auf die Rollenverteilung in ländlichen Räumen zeigt deutlich, dass individuelle Lebensentwürfe jenseits stereotyper Berufszuordnungen und Aufgabenverteilungen nicht immer leicht zu leben sind. Sowohl Gender als auch Ländlichkeit sind Kategorien voller gesellschaftlicher Zuschreibungen und Erwartungen. Einschlägige Studien[5] zeigen, dass oftmals ein homogenes Gesellschaftsbild vorherrscht, welches die Kategorien „männlich“, „heterosexuell“ und „weiß“ favorisiert. Unterschiedliche Lebensrealitäten anderer Geschlechtszuordnungen, sexueller Orientierungen und ethnischer Zugehörigkeiten prägen das Bild vom Leben auf dem Dorf weitaus seltener.

Auch Forschung und Politik sind nicht frei von der tradierten Annahme, dass „typische Landbewohner*innen“ weiß und heterosexuell seien. (Kultur-)politische Ableitungen dieses Vorurteils marginalisieren viele Gruppen mit ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen. Auch wenn die Realität nirgendwo in Europa dem beschriebenen Klischee entspricht, so lassen sich tatsächlich stereotype Geschlechterverhältnisse vor allem dort finden, wo Orte der Kultur und Soziokultur nicht aktiv und bewusst als Orte der Vielfalt und des Miteinanders bespielt werden.
Ob irischer Pub oder Bar im portugiesischen Dorf, immer wieder werden bestimmte Orte ländlicher Räume eher als „männerdominiert“ beschrieben, als Orte, an denen Menschen zum Biertrinken, Musikmachen und Kartenspielen zusammenkommen oder ins Gespräch mit lokalen Politikern treten können. Die sogenannten „Frauenorte“ bilden sie vorwiegend dort, wo sie mit Care-Arbeit verknüpft werden können, beispielsweise beim Austausch vor Schule und Kindergarten, beim Plausch beim Einkauf oder auch in selbstorganisierten Räumen, die für ein Miteinander von den „Frauen“ erst geschaffen werden (müssen). Diese geschlechtsspezifischen Zuordnungen haben unweigerlich auch Auswirkungen auf das gemeinsame Aushandeln von Gemeinschaft und lokalem Zusammenleben.
Denn in Räumen, die einem Geschlecht vorbehalten sind, können gesellschaftliche Verhandlungen nicht in einem gleichberechtigten Miteinander stattfinden. Die Diversität an Lebensrealitäten, die jede Gemeinschaft ausmacht, wird nicht abgebildet. Soziokultur kann und könnte genau dort alternative Aushandlungsräume definieren und diese mit Hilfe künstlerischer und kultureller Praxis lebendig werden lassen. Genau für diese Praxis sind kulturpolitische Strategien notwendig, die die Existenzgrundlage kultureller Akteur*innen in den ländlichen Räumen sichern, die Multiperspektivität fokussieren und bedarfs- und gendergerechte Ermöglichungsstrukturen fördern – durch die Soziokultur und innerhalb ihrer Strukturen.
[1] Artikel 167 der konsolidierten Verfassung der Arbeitsweise der EU von 2008. Der Artikel wurde bereits 1992 im Vertrag von Maastricht und 1997 in der konsolidierten Fassung von Amsterdam (Artikel 151) beschlossen.
[2] Vgl.: Heinicke, Julius: Kultur als Sustainable Development Goal? Das Vermögen der Kulturellen Bildung und der Auftrag der Kulturpolitik für eine verantwortungsvolle Welt(bürgerschaft), in: kubi – Magazin für Kulturelle Bildung, 22, 2022, S.7-11 und online hier.
[3] Zick, Andreas; Küppers, Beate; Mokros, Nico (Hg.) (2023): Die distanzierte Mitte: Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland. Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Franziska Schröter. Dietz, Bonn
[5] Vgl. u.a. Bryant, Lia; Pini, Barbara (2011): Gender and Rurality. Routledge, London. Oder Maschke, Lisa; Miessner, Michael; Naumann, Matthias (2019): Kritische Landforschung. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin