Felsenstein und Verzicht aufs Sofa

Ein Gespräch über ländliche Räume

April 21
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Edda: Du bist Mitte der 1980er, als der Trend von Jahrhunderten zu kippen begann, aufs Land gezogen.

Margret: Bin ich. Zur Sicherheit hatte ich aber für eine Weile einen Koffer in Berlin.

Edda: Vorher gab es ja eine Menge von Gründen, aus ländlichen Gegenden besser zu verschwinden. Wer da zum Beispiel schwul hineingeboren war, flüchtete in die Liberalität und Anonymität der Großstädte …

Margret: … wenn er konnte. Viele hungrige Tagelöhner auch. Von Intensivierung und landwirtschaftlicher Revolution spricht man ja schon seit dem 17. Jahrhundert. Das Höfesterben und die Abwanderung von Arbeitskräften haben eine lange Geschichte.

Edda: Und: Die Kunst, die Wissenschaft, der technische Fortschritt – sie hatten ihre Kommunikationszentren damals nicht in Scheunen.

Margret: In meiner ersten Zeit im Westerwald auch nicht. Wer wie ich als einigermaßen informierte Zeugin an den aktuellen Entwicklungen teilnehmen wollte, konnte leicht verzweifeln. Debatte und Kultur gab´s hier zunächst wenig. Darunter habe ich sehr gelitten. Wir hatten damals ein paar Tiere, kein Geld und viel nichts. Es ging weit mehr Leuten so, als ich mir das hätte vorstellen können. Kurz nach der Gründung unseres Zentrums, des Hauses Felsenkeller in Altenkirchen im Herbst 1986, haben wir 50 Kurse angeboten und hofften, dass sich wenigstens für ein paar davon Teilnehmer*innen melden würden. Total überraschend für uns kam ein Ansturm. Alle 50 Kurse fanden statt.

Edda: Aber ihr hattet doch vorher mit der „Projekta ´85“ schon einen Riesenerfolg. 2 000 Besucherinnen haben eure Öko-Messe für Imkerinnen, Bauern und Handwerker*innen regelrecht überrannt.

Margret: Ja, aber das schien uns damals hauptsächlich am Thema Umwelt zu liegen. Es brannte ja seit dem Bericht an den Club of Rome immer mehr Menschen unter den Nägeln. 1980 hatten sich DIE GRÜNEN gegründet und es 1983 im ersten Anlauf in den Bundestag geschafft. Aus dem Erfolg der „Projekta“ konnten wir nicht gleich auf ein vielfaches Interesse an Bauchtanz, Suchtprävention und kontinuierlichen Bildungsangeboten schließen.

Edda: Insgesamt hört sich das nach „von null auf hundert“ an.

Margret: Ganz so war es nun auch nicht. Wir haben in dieser Zeit den Felsenkeller saniert. Mit Eigenleistung konnten wir manches, aber unmöglich alles stemmen. Zum Beispiel brauchten wir Geld für Möbel. Die GLS-Bank hat uns das Konzept der Leihgemeinschaft nahegebracht. Also schrieben wir 500 Leute an. Es kam darauf nur eine einzige Rückmeldung. Wir haben Unterschriften gesammelt, Diskussionen angezettelt, sind dem Landrat mit Bauchtanz auf den Pelz gerückt, um ihm nach sechs Jahren endlich Fördermittel zu entlocken. Manche Männer in dem 6 000-Seelen-Städtchen haben damals ihren Frauen verboten, einen Fuß in den Felsenkeller zu setzen.

Edda: Du sagst, es gab anfangs gerade bei Frauen ein großes Bedürfnis nach kulturgeprägten „Dritten Orten“, an denen sie sich treffen und aktiv sein konnten. Siehst du weitere Gründe für euren doch recht schnellen Erfolg?

Margret: Tatsächlich, für Frauen haben wir thematisch scheinbar oft ins Schwarze getroffen. Durch unsere Ideen, Initiativen und Veranstaltungen änderte sich spürbar vor allem die Stimmung im Ort und in der Region.

Edda: Beschwingter, optimistischer?

Margret: Ja, und hauptsächlich offener.

Edda: Ist euer Werdegang typisch für Soziokultur auf dem Land?

Margret: Ach je! In einigen Dingen bestimmt. Also, wenn ein paar Akteure für ihre Ideen und Projekte brennen, dann gelingt es ihnen oft, andere zu entflammen. Daraus entstehen Netzwerke, die mit der Zeit Kraft und Kompetenz gewinnen. Aber ansonsten: Was ist typisch, wenn die äußeren Umstände so stark differieren? Das fängt bei den verschiedenen geografischen Bedingungen und Verkehrsanbindungen an und hört bei der unterschiedlichen Förderung durch Kommunen und Länder noch lange nicht auf. Ob sich unsere Mitgliedseinrichtungen im Speckgürtel von Berlin befinden, in einer der Vorortsituationen der Metropolregion Ruhr, in einem der dicht aneinander gereihten thüringischen Dörfer oder in einem der norddeutschen Flecken, wo im Radius von 20 Kilometern Luftlinie keine andere Seele siedelt, das macht viel aus.
Selbst im Blick auf die Zeiträume, in denen verstärkt Gründungen von soziokulturellen Zentren auf dem Land stattgefunden haben, gibt es erhebliche Unterschiede.

Edda: In den westlichen Bundesländern war das fast überall 10 bis 15 Jahre später als in den Städten?

Margret: Das kann man so grundsätzlich nicht sagen. In einigen Fällen lief das nahezu parallel. In den östlichen Bundesländern sieht es noch mal speziell aus.

Edda: Bis zur Wende galt da die Angleichung der Lebensbedingungen in Stadt und Land sozusagen als Staatsdoktrin. Deshalb standen (und stehen) nicht selten sehr große und damit für die Soziokultur kaum zu bewirtschaftende Kulturhäuser in sehr kleinen Gemeinden. Es gab viele ländliche Rückzugsorte von kritischen Künstler*innen und Intellektuellen, zum Beispiel in der Uckermark.

Margret: Das Thema ist uferlos. Eins interessiert mich daran besonders. Wir verfolgen ja praktisch quer durch die Republik, dass die Marktlogik mit den ländlichen Räumen überfordert ist. Wo sich nichts oder nicht genug verdienen lässt, verschwindet von Bankfilialen über Arztpraxen bis zu Kneipen, Friseuren und Läden einfach alles. Manche zivilgesellschaftlichen Enthusiast*innen stemmen sich dagegen und stampfen neue Strukturen aus dem Boden. Herauszufinden und zu erfassen, wie das wo genau und konkret stattgefunden hat und weiter stattfindet, das ist eine lohnende Aufgabe für Kooperationen mit der Wissenschaft.

Edda: Jemand hat mal gesagt, es sei eine künstliche Angelegenheit, die große Kunst zur genügsamen Dorfbevölkerung zu schleppen …

Margret: Damit kann ich nichts anfangen. Es kommt doch immer darauf an, wie man es macht. Wir hatten zum Beispiel vor einigen Jahren ein Treckerballett. Da „tanzten“ nach einer eigens dafür erarbeiteten Choreografie Traktoren den „Nussknacker“. Mehr Begeisterung geht nicht. Oder nimm unser Stationentheater. Da haben wir Menschen aus fünf Dörfern nach ihren Geschichten und Anekdoten gefragt, haben aus denen dann kleine Theaterstücke erarbeitet, die die Leute in ihren Orten selbst aufgeführt haben. Zuerst wollten sie sich nicht so richtig trauen, aber dann hätten sie am liebsten mit den nächsten Stoffen gleich weitergemacht.

Edda: Überspitzt gesagt: Es geht bei soziokultureller Arbeit auf dem Land nicht darum, dass ein Publikum mit der Expertise von Kunstkritikern die Leistungen von Profis beurteilt.

Margret: Eben! Es geht darum, dass Menschen die Möglichkeiten künstlerischer Auseinandersetzung für ihre Alltage, für ihr eigenes Zusammenleben entdecken und nutzen – und dass diese Möglichkeiten in Verbindung mit den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen stehen.

Edda: Wer in einem Theaterstück eine Rolle gespielt hat, der weiß, dass es auch eine andere Rolle hätte sein können. Es fällt ihm oder ihr dann leichter, sich in die Situation von anderen zu versetzen, Empathie zu empfinden.

Margret: Ja, zum Beispiel. Am Stationentheater ist aber vielleicht noch etwas anderes exemplarisch für Soziokultur: Egal, ob jemand eine Rolle spielt, ein Kostüm näht, Leute und Sachen transportiert oder ein Glas Wein für die Pausen bereit hält – alle, die einen Beitrag zum Gelingen der künstlerischen Produktion oder des Kunsterlebnisses leisten, erfahren sich selbst als gleichermaßen wichtig. Daraus entstehen sehr starke Gemeinschafts- und Glücksgefühle.

Edda: Das erinnert an Felsenstein. Er hat ein besonderes Klima geschaffen, indem er als Intendant der Komischen Oper darauf bestand, dass nicht nur Musikerinnen und Sängerinnen, sondern auch alle anderen Mitarbeiter*innen – von den Werkstätten bis zur Putzfrau – zum Ensemble gehören.

Margret: Augenhöhe als Gelingensbedingung, das gilt unbedingt in der Soziokultur – aber eben nicht nur hier, sondern für die Demokratie überhaupt.

Edda: Die Polarisierung, mit der wir gegenwärtig zu kämpfen haben, rührt nicht zuletzt aus einer Art Sprachlosigkeit, die wiederum daraus entsteht, dass Menschen in Großstädten sich zu denen gesellen, die jeweils ähnlich ticken, oder sich im Internet in ihren Echoräumen aufhalten. Auf dem Land begegnen sie sich aber in relativ stabilen Konstellationen im realen Leben. Das ist eine große Chance.

Margret: In der Tat, eine Riesenchance, aber auch anstrengend. Es gibt hier ziemlich große Übung darin, auf der eigenen Meinung zu beharren. Unsere Akteure brauchen zuerst die Bereitschaft, Menschen erst einmal so zu nehmen, wie sie sind. Das habe ich schon in meinen allerersten Tagen des Landlebens gelernt. Wir wollten ursprünglich ein Café aufmachen, in dem Kultur stattfinden und ein altes Sofa stehen sollte. Auf dem Sofa wären wir allein sitzen geblieben. Dass das so in Altenkirchen nicht funktioniert, habe ich schnell begriffen.

Edda: Wie es aussieht, ist gerade auf dem Land in der nächsten Zeit Konfliktfähigkeit nötig. Die Ebbewelle der Landflucht scheint mit Macht zurückzuschwuppen – weil das Homeoffice es ermöglicht, weil immer mehr Eltern ihre Kinder lieber nicht im rollenden Verkehr großziehen wollen …

Margret: Ja, das merken wir deutlich. Aber es geht noch um viel mehr. Allein wegen des Klima- und Artenschutzes brauchen wir eine kleinteiligere Landwirtschaft. Gleichzeitig stecken wir, durch die Pandemie und die Schweinepest noch verschärft, mitten in einer Überproduktionskrise. China mästet jetzt seine Schweine selbst, statt sie von hier zu importieren. Uns stehen große Umbrüche bevor.

Edda: Es wird knirschen im Getriebe.

Margret: Deshalb ist es so wichtig, die Potenziale der Soziokultur auch und besonders auf dem Land viel stärker zu nutzen.

Margret Staal

ist Mitglied des Vorstands der LAG Soziokultur und Kulturpädagogik Rheinland-Pfalz e.V. und des Vorstands des Bundesverbandes Soziokultur e.V.

Edda Rydzy

Dr. Edda Rydzy ist freie Autorin mit Lehr- und Vortragstätigkeit