Alte und neue Veränderungen

Drei Fragen an Gerd Dallmann

Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft wirken sich auch auf die Soziokultur aus. Gerade finden sehr rasche Entwicklungen statt. Ein Grund, die Anfänge der Soziokultur auf dem Land unter diesem Aspekt zu beleuchten.
April 21
|
|

Ute Fürstenberg: Ähnlich früh wie in Rheinland-Pfalz haben sich in Niedersachsen nicht nur in den Städten, sondern auch in ländlichen Räumen soziokulturelle Zentren gegründet. Was waren die Gründe und Impulse dafür?

Gerd Dallmann: Das hatte schon mit den Strukturveränderungen in den ländlichen Räumen zu tun, aber auch mit ganz spezifischen Hintergründen. Ein vielleicht sogar typisches Beispiel ist der Kulturverein Platenlaase – Café Grenzbereich, eins unserer ersten Mitglieder. Die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen um Umweltfragen und Kapitalismuskritik haben viele junge Leute bewegt, ins Wendland zu ziehen und andere, solidarische und selbstbestimmte Lebensformen auszuprobieren. Das verband sich bald mit dem Widerstand gegen den Atommüll. Mit Einrichtung unserer regionalen Beratungsstellen kamen dann in den 90er Jahren immer mehr Initiativen auf uns zu, die sich zunächst gar nicht als soziokulturell verstanden; vielmehr ging es ihnen darum, zusätzlich zum traditionellen Kulturleben vor Ort neue, zeitgemäßere Aktivitäten zu entwickeln. Oft spielen Zugezogene in diesen Initiativen eine treibende Rolle. Mit der Kulturarbeit gelingt dann meist ein neues Miteinander der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Und da die Akteure sich an den Bedürfnissen vor Ort orientieren, demokratisch arbeiten und Teilhabe verwirklichen, wurde dann meist deutlich, dass das, was sie da betreiben, eigentlich Soziokultur ist.

Ute: Du hast dich viele Jahre sowohl in der LAG Niedersachsen als auch im Bundesvorstand engagiert. Worin siehst du Besonderheiten „deines“ Bundeslands gegenüber den anderen?

Gerd: Besonders reizvoll ist, dass es eine große Bandbreite von Städten, Ballungsräumen, kleinstädtischen Strukturen und ländlichen Räumen gibt – und darin soziokulturelle Zentren und Initiativen mit ebenso unterschiedlichen Profilen. Zudem: In Niedersachsen gibt es sehr aktive und gestaltungswillige Kulturverbände. Die Bereitschaft des Landes, mit den Verbänden zu kooperieren und neue Wege in der
Förderung gehen, gab uns die Möglichkeit, mit Beratungsstellen, Projekt-, Investitions- und Strukturförderung soziokulturelle Träger bei Neugründungen, konzeptionellen Weiterentwicklungen, Professionalisierung und Stabilisierung zu unterstützen. Und wir haben hier sehr engagierte und gut ausgebildete Profis: die Absolventinnen der Uni Hildesheim. Die Uni bildet seit Mitte der 1980er Kulturwissenschaftlerinnen aus. Die Ausbildung richtet sich stark auf die Praxis aus und ist spartenübergreifend angelegt. Netzwerke, die aus kulturellem Engagement entstehen, scheinen besonders belastbar und stabil zu sein. Jedenfalls bleiben von den bestens qualifizierten Absolvent*innen der Uni viele in der Nähe, in der sehr lebendigen – wenn auch strukturell und finanziell schlecht abgesicherten – freien Kulturszene Hildesheims ebenso wie bei anderen freien Kulturträgern oder kommunalen Instituten und Verwaltungen.

Ute: Welche Veränderungen werden sich aus deiner Sicht nach der Pandemie ergeben?

Gerd: Das ist wie bei Hochwasser: Die echten Folgen sieht man erst hinterher. Das heißt, es bleibt einiges abzuwarten. Trotzdem scheint klar, dass die Pandemie als Katalysator für Entwicklungen wirkt, die sich ohnehin vollziehen. Das bedeutet Fortschritte in der Digitalisierung ebenso wie die Zuspitzung der Konflikte im Zusammenhang mit Mieten und Wohnen oder einer vernünftigen Landwirtschaft. Das Homeoffice wird wichtiger Bestandteil der Arbeitswelt bleiben, was die Arbeit von Netzwerken und Verbänden möglicherweise flexibler macht und beschleunigt. Interessant wird sein, inwieweit das Engagement im eigenen Lebensumfeld davon beeinflusst wird, das ja auch eine Triebfeder von Soziokultur ist. Wenn mehr Menschen sich entscheiden, aufs Land zu ziehen, da man von überall aus arbeiten kann, bringen sie hoffentlich ihre kulturellen Bedürfnisse mit und nutzen die Chance, mittels
soziokulturellen Engagements Brücken zu bauen und aktiv gestaltend Einfluss zu nehmen auf den Gang der Dinge, das Zusammenleben vor Ort und in dieser Welt.


Gerd Dallmann war bis 2018 30 Jahre lang Geschäftsführer der Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur (LAGS) Niedersachsen e.V.

Ute Fürstenberg

ist Redaktionsleitung des Magazins SOZIOkultur beim Bundesverband Soziokultur e.V.