Bereit für die Zeit nach dem Lockdown

NEUSTART KULTUR im ländlichen Raum

Im ländlichen Raum spielen soziokulturelle Zentren und Initiativen eine besondere Rolle. Sie sind in ihrer Region häufig die einzigen Anlaufstellen für den besonderen Mix aus niedrigschwelliger kultureller Teilhabe und demokratischer Charakter- und Meinungsbildung. Die spezifischen Rahmenbedingungen, unter denen sie Kulturarbeit leisten, spiegeln sich in ihren Plänen für die Wiedereröffnung unter Pandemiebedingungen wider.
April 21
|
|

Ländliche Räume – vielschichtig und divers

„Ländlicher Raum“ ist zunächst einmal nur eine analytische Kategorie. In ihr werden
nicht-urbanisierte Lebensräume anhand sozialgeografischer Merkmale zusammengefasst. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch: Die Lebensrealitäten hinter dem Begriff sind vielschichtig und divers.

Die Gemeinsamkeiten sind vorwiegend struktureller Art: Zum einen sind es die geografischen Eigenschaften der nicht urbanisierten Landschaft, zum anderen in bestimmten Dimensionen unterschiedlich ausgeprägte Bevölkerungsmerkmale, die Gebiete des ländlichen Raums von städtischen Gebieten abgrenzen. Beispielsweise sind die Menschen, die in ländlichen Gegenden leben, im Mittel älter und haben seltener einen Migrationshintergrund.

Statistiken, die solche Unterschiede zu Tage fördern, beruhen allerdings in der Regel auf Durchschnittswerten einer großen Zahl von Untersuchungseinheiten – die tatsächliche Lage ist deutlich vielfältiger. Vor allem die Wirtschaftskraft einer Region besitzt einen erheblichen Einfluss darauf, ob und wie stark sozioökonomische, demografische und ethnische Unterschiede gegenüber städtischen Gebieten auftreten. Den ländlichen Raum an sich gibt es so nicht, er ist ein idealtypisches Konstrukt.

Besondere Herausforderungen

Dennoch gibt es zentrale Charakteristika des ländlichen Raums, die diese Typisierung trotz aller Vielfältigkeit rechtfertigen. Neben der ruralen Umgebung ist ein weiteres die geringere Besiedlungsdichte und daraus folgend kleiner gefasste Bevölkerungseinheiten. Auf dem vorhandenen Lebensraum organisieren weniger Menschen ihr Zusammenleben als in urbanen Ballungsgebieten auf gleicher Fläche.
Für die (sozio)kulturelle Arbeit vor Ort ist das ein relevanter Faktor: Sowohl die geografischen als auch die sozialstrukturellen Besonderheiten einer Region stehen in Wechselwirkung mit der kulturellen Praxis. Die Nachfrage der oftmals homogeneren Zielgruppe ist begrenzter und niedriger. Demgegenüber steht eine geringere Zahl an Kultureinrichtungen. Dies lässt den soziokulturellen Zentren und Initiativen im ländlichen Raum eine spezielle Bedeutung für die Integration und den Zusammenhalt der lokalen Bevölkerung zukommen und stellt sie vor besondere Herausforderungen: Wenn die Besucherinnen nicht einfach wie in der Großstadt innerhalb weniger Minuten an einem anderen Ort Kultur erleben können und es umgekehrt nicht noch unzählige andere Besucherinnen gibt, die stattdessen kommen könnten, muss das Angebot die Nachfrage genau treffen.

In dieser Ausgangsituation schaffen soziokulturelle Zentren den Ausgleich zwischen traditionell ländlichen Themen wie Naturschutz oder generationenübergreifendes Zusammenleben, aktuell drängenden Fragen, etwa zu den Bereichen Nahversorgung, Mobilität und Digitalisierung, und dem Blick über den Tellerrand, sei es durch interkulturelle Workshops oder niedrigschwellige Subkulturangebote im Schatten des klassischen Dorffests. Und das teilweise unter dem Eindruck einer „passive[n] bis antagonistische[n] Haltung eines Teils der Menschen gegenüber Kultur sowie einer vielfältig-demokratischen Gesellschaftsordnung“, wie es in einem der Anträge zu NEUSTART KULTUR „Zentren“ heißt.

Vorteile kreativ nutzen

Das spezielle Verhältnis zwischen Kulturangebot und -nachfrage in ländlichen Regionen bleibt auch in Krisenzeiten nicht ohne Auswirkungen auf die Einrichtungen, wie den Anträgen zu entnehmen ist („Die älteren Menschen hier haben wirklich Angst sich zu infizieren und meiden Kontakte.“). In der aktuellen Pandemie gilt es, kreativ zu werden, um zumindest eine kulturelle Grundversorgung zu gewährleisten. Die vom Bundesverband Soziokultur durchgeführten Fördermaßnahmen NEUSTART KULTUR „Zentren“ und „Programm“ sollen hierbei komplementäre Unterstützung bieten, indem sie Programmarbeit unter Pandemiebedingungen fördern und Investitionen ermöglichen, die zur sicheren Umsetzung dieser Programmarbeit erforderlich sind.

Aufgrund des Lockdowns können in den geschlossenen Kultureinrichtungen derzeit lediglich die Investitionsmittel umgesetzt werden – in den Zentren wird eifrig besorgt und umgebaut, um unter hohen Hygienestandards öffnen zu können. Die geplanten Programme aber liegen derzeit mit wenigen Ausnahmen, vor allem im Bereich digitaler Vermittlung, auf Eis.

Die mit den Anträgen aus strukturschwachen ländlichen Regionen eingereichten Zustandsbeschreibungen lesen sich zum Teil dramatisch, weisen allerdings stets einen hoffnungsvollen Ton auf und zielen auf die pandemiekonforme Wiederaufnahme der Kulturarbeit ab. Die typischen Charakteristika ländlicher Gebiete werden dabei auch in den Planungen deutlich. Die Vorteile, die die Nähe zur Natur und die dünne Besiedlungsstruktur mit sich bringen, werden geschickt eingesetzt, um pandemiekonforme Angebote zu ermöglichen, sei es bei gemeinschaftsstiftenden Floßfahrten am nahe gelegenen Fluss, bei Festivals und Open-Air-Veranstaltungen aller Art auf vielfach verfügbaren großflächigen Arealen oder bei der Nutzbarmachung und dem Betrieb leerstehender Hofgebäude und Scheunen für die Durchführung abstandsgerechter Veranstaltungen. Der ländliche Raum bietet auch unter verschärften Hygieneregeln Potential für ein (sozio)kulturelles Programm in all seinen Facetten, sowohl draußen als auch drinnen.

Parallel zur verstärkten Mobilisierung seiner Vorzüge sollen die strukturellen Defizite des ländlichen Raums mit Hilfe der NEUSTART KULTUR-Förderung so weit wie möglich kompensiert werden. Es sollen Transfers über die langen Strecken zwischen pandemiekonformen Veranstaltungs- und den Wohnorten organisiert, digitale Angebote, die ein Miteinander auch bei physischer Distanz ermöglichen, ausgebaut und das Wirken der lokalen Szene durch die Buchung üblicherweise nicht finanzierbarer überregional aktiver Künstler*innen inspiriert werden.

Die Kultur zu den Menschen bringen

Dort, wo die Wege besonders weit sind, werden die Kulturschaffenden besonders kreativ, etwa, wenn ein Kleinbus zu einem „Soziokultur-Mobil“ umgerüstet wird, oder wenn PKW-Anhänger der passenden Größe und Form zu „Kunsthängern“ umgebaut werden, um „an freier Luft mit genügend Abstand Kultur direkt zu den Menschen zu bringen“, wie es sich hochmotiviert liest. Schaffen die Menschen es nicht mehr zur Kultur, muss die Kultur zu den Menschen gebracht werden. Der Prophet grüßt vom Berge.
Und wie es für die Soziokultur typisch ist, sollen auch künstlerische Auseinandersetzungen mit der aktuellen Situation erfolgen. So heißt es in einem Antrag beispielsweise: „Wir planen ein partizipatives Theaterstück, das ebenfalls Open Air stattfinden soll. […] Es wird speziell die Auswirkungen der Pandemie auf die Gesellschaft und den Einzelnen in unserer Gemeinde in besonderer Weise behandeln.“

Diese niedrigschwellige, selbstreflexive, mit künstlerischen Mitteln ausgetragene Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs ist es, die den zutiefst demokratischen Charakter der Soziokultur verkörpert. Gerade in den ländlichen Räumen, in denen die Menschen sich zunehmend abgehängt fühlen, ist und bleibt sie ein wichtiger Stützpfeiler gesellschaftlicher Pluralität. Hoffen wir, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird, bis die soziokulturellen Zentren und Initiativen ihre wertvolle Arbeit wieder aufnehmen und ihre Vorhaben zur pandemiekonformen Kulturarbeit umsetzen können. Die Gesellschaft braucht sie – in Krisenzeiten mehr denn je.


Thomas Gaens

ist Projektleiter bei NEUSTART KULTUR 1