Ein harter Brocken

Günter Schiemann geht in den Ruhestand

April 21
|
|

Es ist jene Zeit, als der Freundeskreis die WG ist, in der noch intellektuelle Abenteuer stattfinden und der Ernst des Lebens nicht in Langzeitpraktika dahindümpelt. Für den Diplom-Pädagogen Günter Schiemann beginnt Anfang der 1980er Jahre eine Reise durch Nordrhein-Westfalen bis hinauf ins Land zwischen den Meeren, dorthin, wo Schwarzbrot gegessen wird und das AKW Brokdorf liegt. In Husum will er Segel setzen für die Soziokultur. Hier geht er jetzt, fast 40 Jahre Soziokultur und 28 Jahre Geschäftsführung der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Soziokultur später, in den Ruhestand. Seine Vita liest sich wie eine Abhandlung zur Geschichte der Soziokultur im Land.

Aufbrüche

Aktivisten mobilisieren gegen die Stationierung der Mittelstrecken-Raketen und gegen den Nato-Doppelbeschluss. Die Friedensbewegung setzt mit über einer Million Teilnehmer*innen an einer Demo ein bleibendes Zeichen. Jugendunruhen in den Städten – eine „Null-Bock-Generation“ zwischen Konsum und Leistungsdruck auch auf dem Land. Massive Wirtschaftskritik, Anti-AKW und Hausbesetzungen prägen ein neues Lebensgefühl – und Drachenfliegen wird auch außerhalb der Alpen zum Volkssport. Es ist eine starke Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs auf allen Ebenen, Stoff für mehrere Leben in der Soziokultur, deren Häuser sich jetzt „Kommunikationszentrum“ nennen – Volksbad Flensburg, Hansa48 und der Speicher Husum sind erste Seismographen für gesellschaftliche Veränderung. Noch ohne Netzwerk und ohne Fördergeld markieren sie die Geburtsstunde der Soziokultur im hohen Norden – wenig später bereits in Beteiligung von Günter Schiemann.

Präsenz und Beharrlichkeit

Auf der „grünen Wiese vor Hamburg“, mit dünner Besiedelung an der Westküste und etwas besserer Infrastruktur an der Ostseeküste, ist der Zusammenschluss der Zentren zu einer Arbeitsgemeinschaft von Anfang an eine große Herausforderung, dazu kommt die große räumliche Distanz der Initiativen und Akteure. 1990 steht das Netzwerk, Günter Schiemann und acht Zentren gründen die LAG Soziokultur Schleswig-Holstein – „ein richtiger Gemischtwarenladen“, so der scheidende Geschäftsführer. Der erste Claim ist auch bei uns an der Küste: Kultur für alle. Heute zählt die LAG 34 Mitglieder. Der Verband wird institutionell gefördert. Es gibt Projektmittel für die Zentren. Ein eigener Investitionstopf ist in Vorbereitung. Es hat sich viel getan. „Günter vergisst nicht. Was war und was sein sollte, das hat er in Konferenzen oder Gesprächen unter vier Augen stets präsent – und daraus gibt es kein Entkommen“, so Gert Haack, Referatsleiter im Kieler Kulturministerium, und weiter: „Dass die Soziokultur heute so im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, ist sein Verdienst. Dass sie künftig noch stärker auf die politische Agenda treten wird, ist seiner Beharrlichkeit zu verdanken.“

Kontraktunterzeichung für die institutionelle Förderung der LAG am 13. Februar 2017 mit Anke Spoorendonk, Ministerin für Justiz, Kultur und Europa (3.v.l.), Mitarbeitern des Ministeriums und Vertreter*innen der LAG, rechts Günter Schiemann

Lobbyarbeit

Natürlich ist die Welt auch im nördlichsten Bundesland keine Scheibe, doch gibt es östlich und westlich der Meere schon einige Düsterwälder. Hier leben die freien Stämme mit ganz eigenen Ritualen – Diversität pur, oftmals isoliert, gäbe es die politische Lobbyarbeit des Verbandes nicht. Und die ist geprägt von Beharrlichkeit, Ausdauer und auch Streitbarkeit des scheidenden Geschäftsführers. Er ist ein „harter Brocken“ – keine Chance für Stillstand. Neue Initiativen gründen sich und stärken die LAG. Der ländliche Raum swingt. Als Mitglied im Kuratorium des Fonds Soziokultur hat Günter sein Bundesland einflussreich vertreten. Die Möglichkeit, Fördergelder an herausragende Projektideen zu vermitteln, sieht er als spannende Aufgabe. „Günter richtet sein Augenmerk auch auf die Zentren in kleineren Orten mit ihren spezifischen Herausforderungen aus kulturpolitischer Sicht“, so Klaus Kussauer, der ehemalige Leiter des Fonds Soziokultur. Zudem hat Günter in seiner Tätigkeit im Sprecherrat der Kulturpolitischen Gesellschaft in Schleswig-Holstein die Schnittpunkte von Aufgaben konkurrierender Verbände identifiziert und überbrückt. Die Beiträge der LAG für den regelmäßigen politischen „Kulturdialog“ des Landes mit den Kulturinstitutionen sind unüberhörbar. Schiemanns Credo: „Soziokultur wird von den Menschen, von den Akteuren gemacht und gestaltet. Das sind engagierte Menschen, die sich für ihr Gemeinwohl, für ihren Stadtteil, für ihre Stadt, für ihr Dorf einsetzen; die neben der Kulturarbeit, die auch immer sehr politisch orientiert ist, sehr viel Bildungsarbeit machen; die alle Bevölkerungsgruppen zumindest programmatisch ansprechen.“

Ein Urgestein geht von Bord — noch nicht ganz

Mit Günter Schiemann geht ein Urgestein der Soziokultur in Schleswig-Holstein von Bord – doch noch nicht ganz, denn das „Kindertheater des Monats“, sein wichtigstes Projekt, feiert 2022 dreißigjähriges Bestehen und das will er noch vorbereiten. Gerade in dieser turbulenten Zeit, wo jede Programm-Planung wegen neuer Corona-Regeln immer wieder gekippt wird, braucht es eine erfahrene und souveräne Organisation, jemanden, der die Stellschrauben kennt, der die Mittel beschaffen kann, gerade für die kleinen teilnehmenden Häuser. Da gibt es viele Wege in die Zukunft. Wir freuen uns auf zwei weitere Jahre mit Günter Schiemanns Mitarbeit – gerade jetzt.

Ingrid Ebinal

ist Geschäftsführerin des KulturBahnhofs Itzehoe