In Berlin, der Stadt der Zugezogenen, der Entwurzelten und der Ersatzfamilien, wohnen die allermeisten Menschen dicht neben- und übereinander, in Mehrfamilienhäusern. Viele kennen niemanden in ihrem Haus, manche sagen „Guten Tag“, einige borgen sich Eier und wenige trinken im Sommer mit der oder dem Nächstwohnenden einen Wein auf dem Balkon. Doch 345 000 Berlinerinnen besuchen inzwischen mehr oder weniger regelmäßig nebenan.de. Laut Website waren deutschlandweit im Juli 2022 rund 2,5 Millionen Nutzerinnen in etwa 10 000 „aktiven Nachbarschaften“ unterwegs.
Das 2015 von Unternehmern gegründete und von einer GmbH und einer gemeinnützigen Stiftung betriebene Nachbarschaftsnetzwerk wirbt für Cleanup-Days, Hofflohmärkte und Tauschkonsum, schreibt Nachbarschaftspreise und Klimaschutzwettbewerbe aus, will also der Nachhaltigkeit dienen.
Bevor ich extra eins kaufe, wollte ich mal fragen …
Und tatsächlich sorgen der Marktplatz auf nebenan und die vielen Hofflohmärkte dafür, dass vieles, was sonst entsorgt würde, ein zweites, drittes, viertes Leben erhält; übriggebliebene und gerettete Lebensmittel landen in Nachbars Bauch statt in der Mülltonne; die Idee der Leihläden wird hier direkt umgesetzt: Wirklich nicht jeder muss ein Waffeleisen oder einen Kärcher besitzen und wenn man eine Bohrmaschine braucht, kommt nicht selten der Handwerker gleich mit ins Haus, der vielleicht auch noch den Staubsauger repariert. Wer kann mir helfen? Überhaupt ist die Hilfsbereitschaft immer wieder erstaunlich, egal, ob es um Tipps, um Starterhilfe im Winter oder um ein PC-Problem geht. Als es im ersten Lockdown keine Masken gab, spendeten die einen Stoffe und Gummis, während die anderen bunte Modelle zusammennähten und sie billig, oft auch kostenlos denen zur Verfügung stellten, die sie brauchten, Krankenschwestern zum Beispiel. Die kleinen Schwätzchen auf Abstand bei der Übergabe waren für einige das einzige echte Gespräch am Tag und plötzlich verabredete man sich mit nie Gesehenen auf gemeinsame Unternehmungen „nach Corona“. Solange der Lockdown anhielt, behalf man sich mit digitalen Treffen: Man sah gemeinsam Filme, spielte Gesellschaftsspiele, tanzte und machte Sport oder redete und alberte einfach mit Nachbarinnen, die der Einladung gefolgt waren.
Lasst uns doch mal …
Ganz sicher ist nebenan noch viel mehr als andere soziale Medien eine Schnittstelle zwischen digitaler und realer Welt, denn viele der Kontakte, die hier entstehen, münden in wirkliche Treffen im Kiez, in Bekanntschaften und Aktivitäten. So entwickeln sich immer mehr Initiativen, die ihr unmittelbares Umfeld mitgestalten wollen. Man putzt gemeinsam den Park, stellt Bücherschränke und Ausgabestellen für gerettete Lebensmittel auf, kämpft für Verkehrsberuhigung oder Begrünung von Ödflächen.
Die Kommunalpolitik könnte viel darüber lernen, was die Bürger*innen bewegt, schaute sie hier nur öfter vorbei.
Ich muss mal reden …
Ob Lokalpolitik oder Corona-Maßnahmen, es wird natürlich auch ausgiebig diskutiert,
Auch wenn politische Auseinandersetzungen auf nebenan grundsätzlich nicht erwünscht sind, fanden und finden sie statt, interessanterweise überwiegend sachlich und konstruktiv. Gibt es „Ausrutscher“ wie Hetze, Beschimpfungen, radikale und unbelegte Positionen, finden sich stets Menschen, die freundlich darauf hinweisen, dass hier eine andere Diskussionskultur herrscht.
Hilft gar nichts, bietet das Portal Möglichkeiten, unliebsame Posts auszublenden oder Störenfriede ganz zu sperren. Auch so bleibt der Grundton von nebenan ein hilfsbereiter, engagierter, toleranter.
Also alles perfekt?
Ende 2020 hat der Burda-Konzern die Mehrheit an nebenan übernommen. Die Zahl der kommerziellen Beiträge steigt seitdem, die Bereitschaft zum Spenden für den Betrieb von nebenan sank dadurch. Die Befürchtungen, dass auch auf diesem Portal zukünftig Daten gesammelt werden, nehmen zu. Bislang ist das wohl nicht so, auch wenn es auf einem bekannten Bewertungsportal hartnäckig behauptet wird.
Dort liest man auch, nebenan diene nur dem Streit und der Sperrmüllentsorgung.
Nun, nebenan.de ist, wie das Internet, wie die ganze Welt, das, was wir draus machen.