Immer zuverlässig sprechen

Die „10“ in Gera-Lusan

Andrea Schramm leitet das Kinder- und Jugendzentrum Bumerang und leistet unter anspruchsvollen Bedingungen wichtige Stadtteilarbeit in Gera-Lusan. Beides erfordert intelligente Kommunikation. Im Kern geht es dabei nicht um spezielle neue Tricks, sondern eher um alte Tugenden, die selbstverständlich sein sollten.
Juli 25
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Gera liegt im Osten von Thüringen. Die Stadt hat im vergangenen Jahrhundert viel erlebt. Schon im 19. Jahrhundert ist sie ein reiches Zentrum der Textilindustrie. Nach dem Zweiten Weltkrieg kommen Werkzeug- und Textilmaschinenbau, Elektronik und Gerätebau sowie Uranerzbergbau hinzu. Die Zahl der Einwohner*innen steigt zwischen 1945 und 1989 von etwa 80 000 auf 135 000. In den 1990er Jahren verschwinden fast alle Industriebetriebe und mit ihnen bis 2010 ein Drittel der Einwohner*innen. Aufgrund von Abwanderungen und Geburtendefiziten altert die Stadtbevölkerung erheblich. Das ändert sich infolge der Flüchtlingskrise und des Ukraine-Kriegs deutlich. Innerhalb von zehn Jahren wächst der Ausländeranteil von 1,9 auf 13,3 Prozent. Das drückt den Altersdurchschnitt der Stadt auf 47,8 Jahre, während die Zustimmung zur AfD seit 2014 kontinuierlich wächst. Sie gewinnt mit mehr als 35 Prozent die letzten Kommunalwahlen und 2024 auch beide Direktmandate für den Deutschen Bundestag.

Auf Augenhöhe

Andrea erlebt diese Prozesse hautnah mit. Sie ist Grundschullehrerin mit einem zusätzlichen Diplom für Kinder- und Jugendarbeit. Zum Zeitpunkt der Wende arbeitet sie als Mittzwanzigerin bereits mit Kindern im Stadtteil Lusan. Sie diskutiert an Runden Tischen darüber, was sich aus dem Scheitern der DDR lernen und künftig besser machen lässt, gründet mit Gleichgesinnten Anfang April 1990 die Kindervereinigung Gera e.V. Dort steht seit inzwischen 35 Jahren in der Satzung, dass die Subjektposition der Kinder und die Rechte der Kinder gelten. Das heißt: Kinder sollen selbst in Projekten aktiv werden, sich verwirklichen können, statt sich im Zweifelsfall als Mitglieder irgendwelchen Vereins- oder Verbandsinteressen beugen zu müssen. Andrea arbeitet im Vorstand der Vereinigung mit und leitet seit dreißig Jahren das Kinder- und Jugendzentrum Bumerang. Im KJZ verbringen monatlich um die 400 Kinder und Jugendlichen aktiv viel Zeit. Dass sie wie auch ihre Eltern und Familien mit dem quirligen Leben zu 100 Prozent zufrieden sind, fußt auf einer zentralen Voraussetzung: Den Teilnehmer*innen der Projekte wird nicht gesagt, wofür sie sich interessieren sollten. Die Mitarbeiterinnen verwenden viel Mühe darauf, herauszufinden, was die Kinder und Jugendlichen selbst gern möchten und unterstützen sie dann nach Kräften bei der Verwirklichung. Echte Augenhöhe eben.

Kinder sollen selbst in Projekten aktiv werden, sich verwirklichen können.

Kinderfest im Garten

Ein Haus, viele Ideen

Das Bumerang hat sein Quartier auf knapp 675 Quadratmetern Innenfläche, dazu Außengelände mit Garten und Sportmöglichkeiten, in einer ehemaligen Kindertagesstätte, in der „10“. Das Haus und sein dazugehöriges Gelände werden die „10“ genannt, weil das ihre Hausnummer in der Werner-Petzold-Straße ist. Das Bumerang ist nicht der einzige Mieter. Hier haben auch die Kontaktstelle für Straßensozialarbeit, das erste Stadtteilbüro, die Stadtteilbibliothek und der Interkulturelle Verein Gera e.V. ihren Sitz. Gemeinsam bilden sie das Soziokulturelle Zentrum von Lusan. Und zwar nicht nur dem Namen nach, sondern als alltägliche Tatsache. Das Zentrum stellt mit Jung und Älter viel auf die Beine. Man trifft sich bei Buchlesungen, Keramikkursen, bei Proben junger Bands, beim Tanztee oder Konzert, auf dem Flohmarkt, bei Kinder- und Stadtteilfesten oder Weihnachtsveranstaltungen, beim Fasching oder Floristiktreff, bei Verkehrsteilnehmerschulungen, bei Workshops zu Themen wie Graffiti, Trickfilm oder digitale Medien, in Bürgersprechstunden oder bei Beratungen zu den diversen aktuellen Themen.

Verlässlichkeit statt Hierarchie

Hinter all dem stehen eine Menge organisatorische und physische Kraft, vor allem aber auch große mentale Leistungen. Wo Leben ist, da sind ja Konflikte. In der „10“ gibt es keine Hierarchie. Die Akteur*innen gehen als gleichberechtigtes Team durch alle nötigen Anstrengungen bis hin zu Haushaltsverhandlungen. Das heißt: Wenn die tägliche Kommunikation, wenn der schnelle und vollständige Austausch der wichtigsten Informationen nicht klappt, klappt gar nichts. Andrea nennt als Grundregeln: Erstens – was auch immer geschieht, worin auch immer man sich mitunter widerspricht, man muss auf jeden Fall im Gespräch bleiben. Zweitens – man darf sich nicht gegenseitig die Zeit stehlen. Wer sich selbst gern reden hört, verscheucht einfach andere. Das Team der „10“ hat es gelernt, die wöchentlichen Beratungen sehr diszipliniert innerhalb einer Stunde durchzuführen und zugunsten der notwendigen gegenseitigen Informationen und Absprechen auf alles Verzichtbare wirklich zu verzichten. Die Protokolle mit den getroffenen Verabredungen folgen auf dem Fuß. Drittens – verbindlich und zuverlässig sein. Wer sagt, dass er oder sie am Tag X zur Stunde Y dies oder jenes tut, muss das auch liefern.

Was auch immer geschieht, worin auch immer man sich mitunter widerspricht, man muss auf jeden Fall im Gespräch bleiben.

Über die Jahre hin entwickeln sich auf dieser Basis einer höflichen Sachlichkeit freundschaftliche Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Teams der „10“. Das hilft. Damit die Stadtteilarbeit im herausfordernden Lusin gut funktioniert, muss schließlich die Kooperation mit vielen Partner*innen außerhalb des unmittelbaren Teams gelingen: mit Schulen und Kindertagestätten, mit der Stadt Gera, der Politik und dem Ortsteilrat, mit anderen Vereinen …

Spielaktion im Garten

Sozial durchmischt seit Anfang an

Lusan entsteht zum größten Teil in den 1970er Jahren, hat Ender der 1980er 45.000 Einwohner und wird Neubaugebiet genannt. Jetzt sagt man meist Plattenbau-Siedlung und weckt damit bei vielen ziemlich falsche Vorstellungen. Geht es um Platten-Siedlungen in westlichen Großstädten, kann man fast ausschließlich davon ausgehen, dass es sich um Vorhaben des sozialen Wohnungsbaus und in der Folge um soziale Brennpunkte handelt. Lusan ist viel heterogener.

Nicht nur, weil es hier auch einige Einfamilien- und Reihenhäuser gibt. Diejenigen, die die Plattenbauten in den 1970er und 1980er Jahren als Erste beziehen, sind keineswegs sozial schwach. Die damaligen, jahrzehntelang vernachlässigten Altbauwohnungen der Stadt zeichnen sich durch Dreckecken, Kohleheizungen, undichte Fenster sowie marode Leitungen und Rohre aus. Von der Verkäuferin, dem Dreher oder Müllfahrer über Behördenangestellte bis zu Professoren oder Direktorinnen sind damals viele froh, aus den Altbauten weg in eine pflegeleichte und fernbeheizte Neubauwohnung zu kommen.

Mehr Miteinander, bitte

Trotz einiger Rückbauten hat sich diese durchmischte Sozialstruktur unter den heute noch 22000 Einwohner*innen erhalten. Hinzu kommen inzwischen Menschen aus vierzig Nationen, die aber nicht in räumlich feststellbaren Communities leben.

Der aktuelle Altersdurchschnitt liegt bei 63 Jahren. Wen Beruf und Familie voll auslasten, trifft man selten in der „10“. Andrea nennt sie die „verschwundene Generation“. Sie bekommt viele Signale, dass sie gute und wichtige Arbeit leistet. Ein Junge sitzt auf einem Baum neben ihrem Weg. Er ruft ihr strahlend zu: Sie sind doch die vom Bumerang! Jemand aus dem Frauenchor setzt sich hin und schreibt einen sehr persönlichen Brief, um dem Stadtteilbüro für seine Arbeit zu danken: Wir sind so glücklich, dass Ihr da seid.  

In diesen Wochen findet eine große Befragung zur Wohnzufriedenheit statt. Bislang gibt es ungefähr vierhundert Rückläufe. Neben mehr Ordnung, mehr Sauberkeit und einem Freibad wünschen sich die Teilnehmenden kleine Cafés und – mehr Miteinander.

Das Miteinander im wie gesagt sehr heterogenen Lusan lässt sich keineswegs immer leicht gestalten. Manchmal gibt es Funkstillen zwischen Akteur*innen, manchmal braucht es Mediation von außen. Manchmal wollen sich „Jugendliche einfach nicht retten lassen“, wie Andrea das ausdrückt. Und manchmal kollidieren eben auch grundsätzlich verschiedene Lebensbedürfnisse.

Reden statt verbieten

Junge Leute und/oder solche mit migrantischen Wurzeln zieht es zum Feiern gern raus auf das Gelände der „10“, während gealterte Biodeutsche sich mehr in ihre Wohnungen zurückziehen. Die einen stürmen mit großen Schritten ihrem kommenden Leben entgegen und machen dabei selbstverständlich Geräusche. Die anderen sind schlicht alt genug, um am eigenen Leib zu spüren, dass aus Lärm tatsächlich gesundheitsrelevanter Stress entsteht.

Jetzt möchte der Ortsteilrat den Garten der „10“ am liebsten zur Alkoholverbotszone erklären. Das hieße aber besonders für junge Betroffene so etwas wie Vertreibung aus einem Paradies auf dem Weg zum Erwachsensein. Eine universelle Lösung gibt es nicht, sagt Andrea. Doch eine, mit der alle Beteiligten einigermaßen leben können, wird sich im Gespräch finden lassen, sagt die Erfahrung.

Edda Rydzy

Dr. Edda Rydzy ist freie Autorin mit Lehr- und Vortragstätigkeit