Radio als demokratischer Ort

Wie aus illegalen Piratensendern Freie Radios wurden

Programme machen, in denen über das gesprochen wird, was sonst keinen Platz hat, Freiräume schaffen und Gegenöffentlichkeit etablieren. Diese Ziele verfolgen Freie Radios seit den 1970er-Jahren, unter veränderten Bedingungen, bis heute. LAURA ARMBORST im Gespräch mit JAN BÖNKOST und ALEX KÖRNER über die Bewegung der Freien Radios in Ost und West.
Mai 23
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Laura Armborst: Wie sind die Freien Radios entstanden?

Jan Bönkost: Freies Radio ist ein Kind der sozialen Bewegung der 1970er Jahre. Aus dem Gefühl, mit den eigenen Interessen und Problemen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit nicht vorzukommen, entstand die Idee linker Gegenöffentlichkeit. Freie Radios waren ein Teil davon. Die Macher*innen hatten häufig Erfahrungen mit anderen Alternativmedien gesammelt wie Stadt- und Szenezeitungen und ähnlichem. Die Illegalität des Radiomachens war eine Herausforderung und zumindest einzelne mussten technisch versiert sein. Es ist nicht leicht, einen Sender zu bauen, kaufen konnte man die nicht einfach. Viele Gruppen haben erst einmal mit der Technik experimentiert und irgendwann eine erste Sendung angekündigt. Linker Piratenradiosender gegen das öffentlich-rechtliche Rundfunkmonopol – das brachte damals eine Menge Aufmerksamkeit.

Alex Körner: Das, was Jan beschreibt, gilt für die Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren. Die zweite Phase der Freien Radios begann im Frühjahr 1990 auf dem Gebiet der DDR. Nicht genehmigten Rundfunk gab es zum Beispiel in Erfurt mit Radio F.R.E.I. oder in Ostberlin mit Radio P, das aus der Hausbesetzerszene um die Schönhauser Allee kam. „Hier wurde gestritten für Meinungsfreiheit – wir nehmen uns die eben auch“, das war die Haltung der Radiomachenden. Nicht nur in Berlin war das verbunden mit Subkultur und antifaschistischer Gegenwehr. Es gab viel Punkmusik, Konzertankündigungen, aber auch das Neue Forum rief über Radio P zum Unterschreiben von Petitionen auf. Nach einigen Wochen versuchten Post und Polizei dann, dem Ganzen einen Riegel vorzuschieben. Die Post war schon in der Weimarer Republik die staatliche Instanz, die Sendelizenzen vergeben hat. Sie war immer dabei, wenn es um Sendeverfolgung ging, und beschäftigte die Peiler, die herauszufinden versuchten, von wo gesendet wird.

LA: Von wo wurde denn gesendet?

AK: Das hängt von der Zeit und den örtlichen Gegebenheiten ab. Die Leute im Prenzlauer Berg haben aus einem der besetzten Häuser heraus gesendet. Als Post und Polizei kamen, sind sie ins Haus gegenüber gezogen. Die Erfurter haben im September 1990 öffentlich angekündigt: Wir senden aus einem soziokulturellen Zentrum, sechs Stunden lang. Gleichzeitig hat ein Konzert stattgefunden. Menschenmassen als Schutz haben auch bei Demonstrationen funktioniert.

JB: Ende der 1970er ging es darum herauszufinden, wie der Staat überhaupt reagiert, wenn man sein Rundfunkmonopol ganz praktisch infrage stellt. Die Radiogruppen waren sehr vorsichtig und haben jede Sendung von einem neuen Ort ausgestrahlt. Manchmal wurde ein Sender bewusst geopfert, um zu erfahren, wie lange Post und Polizei brauchen.

LA: Wie kam es zur Legalisierung, zur Entstehung der Freien Radios, die wir heute kennen?

JB: Ich würde gerne etwas zum Begriff Freies Radio sagen. Frei hieß, dass man unabhängig sein wollte. Man wollte ein Radio, in das der Staat nicht reinreden kann, auf das Parteien keinen Zugriff haben und das sich nicht über Werbung finanzieren muss. Die Faszination, sich ein Medium mit einer so großen Reichweite anzueignen, war zu Beginn riesig. Als Aktionsradios hatten Freie Radios tatsächlich eine Funktion in den damaligen Protesten. Aber ein regelmäßiger Sendealltag war unter den Bedingungen der Illegalität sehr aufwendig und mühsam. Viele illegale Freie Radios verschwanden deshalb wieder. Ein Teil der damaligen Radiomachenden entwickelte aber konkrete medienpolitische Forderungen: Freies Radio sollte die existierende Öffentlichkeit erweitern und demokratisieren. Aus diesen Kreisen heraus gab es Anfang der 1980er die erste bundesweite Legalisierungskampagne. In dieser Zeit wurde privat-kommerzieller Rundfunk zugelassen, das Rundfunkmonopol fiel. Die Radio-Aktivist*innen haben sich dafür eingesetzt, dass auch ihre nicht-kommerziellen Radioideen möglich würden.

Hier liegt auch eine der grundlegenden Verbindungen zur Soziokultur, nämlich die Herkunft aus demselben gesellschaftlichen Milieu der 1970er und 1980er Jahre und die Suche nach neuen Freiräumen. Bis heute haben viele Freie Radios ihre Redaktionsräume in Kulturzentren. Wenn man den Begriff Gegenöffentlichkeit breit betrachtet, ist die Grenze zu einer Gegenkultur fließend. Dann ist auch ein linkes soziokulturelles Zentrum Teil alternativer Öffentlichkeit, weil Menschen hier mit ihren Bedürfnissen zusammenkommen.

AK: In Berlin, in Dresden, in Erfurt sind Sender entstanden, die der Wendebewegung entsprachen: Alles Drängende sollte diskutiert werden, auch im Radio. Es zeigte sich bald, dass nach der sogenannten Wiedervereinigung diese nicht-kommerzielle Sendepraxis verhindert wurde. Die entstehende Bewegung ostdeutscher Freier Radios speiste sich zudem aus der Abschaltung des Jugendradios DT64, eines DDR-Senders, der ab dem Herbst 1989 durchaus kritisches Programm machte. Es gab Proteste gegen die Abschaltung und Leute, die sagten: Wenn es DT64 nicht mehr gibt, machen wir selbst Radio. Gleichzeitig wurde vielen Initiativen in den 1990ern klar: Wir können nur überleben, wenn wir Unterschriften sammeln, uns als Verein gründen, mit Politiker*innen Gespräche führen. Wenn wir versuchen festzuschreiben, dass man Freie Radios unterstützen muss. So ist zum Beispiel im Jahr 2000 Radio Corax in Halle legalisiert worden, das bis heute sendet. Corax und andere Freie Radios gelten heute als demokratische Orte, an denen Minderheiten zu Wort kommen und Medienkompetenz vermittelt wird. Sie sind aber auch Orte, wo sehr billig Ausbildung stattfindet, auch für andere Sender. Häufig decken die Freien Radios die Lokalberichterstattung ab, die die öffentlich-rechtlichen nicht leisten. Das alles auf Basis einer ehrenamtlichen Struktur.

LA: Was ist aus den Gründungszeiten geblieben?

JB: Dass es heute noch unabhängiges Lokalradio gibt, das sich auf die Tradition der Freien Radios von vor 40 Jahren beruft, das ist eine wahnsinnige Kontinuität. Die nachhaltigsten Projekte aus der linken Alternativmedienphase der 1970 und 1980er sind eigentlich die Radios. Freies Radio ist bis heute ein emanzipatorisches Projekt geblieben, das sich an veränderte Rahmenbedingungen angepasst hat. Aber das ist ja nicht nur schlecht, sondern auch manchmal gut. Und wenn mensch sieht, wie einerseits die gesellschaftliche Rechte den Begriff der Alternativmedien für sich vereinnahmt hat und wie andererseits Freie Radiosender heute immer noch staatlicher Repression ausgesetzt sind, wie beim FSK in Hamburg oder kürzlich bei Radio Dreyeckland in Freiburg, lässt sich nur konstatieren: Linke unabhängige Medien wie eben Freie Radios braucht es aktuell mehr denn je.

LA: Macht ihr eigentlich selbst Radio?

AK: Jan und ich machen am 28. und 29. Oktober 2023 Radio, zum 100. Jahrestag der Einführung des Rundfunks in Deutschland. „100 Jahre anderes Radio“ haben wir das genannt und wir werden 48 Stunden in über 40 Freien Radios senden. Außerdem planen wir im Herbst Veranstaltungen an zahlreichen Orten zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft Freier Radio-Praxis.


Jan Bönkost promoviert zur Freies-Radio-Bewegung in der BRD zwischen 1975 und 1985.

Alex Körner macht seit 2005 Radio bei Radio Corax in Halle und promoviert.

Laura Armborst

ist Mitarbeiterin im Kultur und Initiativenhaus STRAZE in Greifswald und Vorstandsmitglied des Landesverbandes Soziokultur Mecklenburg-Vorpommern e.V.